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Mittwoch, 15. September 2010

ZUG UM ZUG (5): TUNNELDURCHBRUCH (1995)

Die Angst fährt mit. Beim zweiten Mal. Keine Freude diesmal, als das Ultraschallbild ausgedruckt wird. Noch einmal also. Doch. Wie bestellt. „Kein Einzelkind.“, hatte die gesagt. Das war aber vorher gewesen. Weißt du noch? Bevor ich das wusste. Was weißt du denn? Jedes Kind ist anders. Aber wenn? Sie nennen das Risiko-Schwangerschaft. Viele Schwangerschaften sind heutzutage Risiko-Schwangerschaften. Man will nichts übersehen. Aber sie sieht, wie die Ärztin Ausrufezeichen hinter das Wort setzt. Die vorzeitigen Wehen.  Der viel zu früh geöffnete Muttermund. Die Frühgeburt. Die Umstände der ersten Geburt. Beinahe Herzstillstand. Ausblutung. "Was machen Sie mit Ihrem Baby? Sie werden sich 8 Monate lang nicht rühren dürfen.Ich weise Sie sofort ein." Das ist der Moment. An dem sie aufwacht. Ich werde nicht mehr in die Klinik gehen. Einen Platz in der Krippe erbitte ich vom katholischen Pfarrer. Mittags bringt ihn die Freundin heim. Das geht. Das muss gehen. Das ist noch mein Körper. Sein Körper. Wieder-Besetzung. Unausgeheilt. Dies Kind. Soll leben. Wird gesund sein. Und ich. Dein Körper. Ist ein Gefäß. Hält still. Nimmt sich zusammen und zurück. Keine Tränen. Fress-Sucht. Als sie aufsteht, 8 Monate später, kann sie die eigenen Füße nicht mehr sehen. Das bin ich nicht. Das ist, die den austrägt. Gut gemacht. Jetzt kann´s losgehen. Diesmal wissen die, dass es schnell gehen kann. Die haben ihre Akte gelesen. Risiko. Risiko. Risiko. Der Arzt ist jung. Wenig Erfahrung. Sie tätschelt ihm die Hand. Das wird schon. Drinnen die andere schreit und schreit und schreit. Draußen die schweigt. Atmet tief. Schließt die Augen. "Bitte schauen Sie mich an; ich habe Angst Sie zu verlieren." Doch sie schaut nach innen. Der ist. Nicht ich. In mir. Du und ich. Wir schaffen das. Eins und zwei und drei. duichduichduichduduichdurch... bruch. Was für ein lauter Schrei. Von zweien.

Dieses Kind ist anders. Wird den Mutterleib besitzen und besetzen. Noch einmal neun Monate lang. Mein. Sagt die winzige Hand, die auf deiner Brust liegt. Mein. Und sein erstes Wort wird „Ich“ sein. Kein Umweg über die 3. Person. Kein Mama oder Papa. Heilende Hände.


Zugfahrten. Von hier aus gehen wir weiter. Sitting still and watch the engines come and go. Meine schönen Söhne. Und deine.

Samstag, 11. September 2010

ZUG UM ZUG (5): AUF DEM ABSTELLGLEIS (1994/95)

Das war dann ausrangiert. Auf ein Abstellgleis. Hat es sich weggestellt. War einmal ein Körper, der Ich war, der war nicht das Andere, war immer ich, das denkt. Hat sich nicht gehabt, sondern ist gewesen. So war das. Im Spiegel das nackte Abbild sah sie gern, sagt sich Du und Hallo. Ganz gewiss ist die sich, das Ich und Du eins sind und sich fühlen, das heißt die Zehen spreizen. Dann zerspringt. Der Spiegel und Du und Ich. Es wandelt sich in ein Gefäß, das versagt. Kann sich nicht lieben. Liebt nur noch das Andere, das ich nicht ist. Ein Wille versucht zu herrschen. Doch Du entziehst dich und es zerplatzt. Keine Scherben. Nur Blut und Tränen und Schleim und das Gefühl. Das Ich nicht ist.

Das ging noch einmal gut. Ein Knabe lag in ihren Armen. Verwundet zwar. Schwer keuchend, fast erstickt. Sie hält ihn fest. Hält sich fest an dem. Der Kopf denkt. Die Brust tropft. Der Mund küsst. Die Hand hält. Funktionsfähigkeit wird geprüft. Wiederherstellung des Systems. Infusion. Blutstillung. Nahtstelle. Wundbrand. Vernarbung.

Der Zug rollt weiter. Es und Du und Ich und Knabe fahren mit. Wenn der trank an ihrer Brust, der kleine Mund um die Warze sich schloss und anfing saugte, rhythmisch und gewiss, dann fühlte sie sich. Im Erker saß sie, auf dem Schaukelstuhl, das Kind in den Armen, wiegte sich und den und Ich und Du. Die Blätter am Baum vor dem Fenster wuchsen  grün sich aus und glänzten silbrig in der Sonne und wehten im Wind und fielen golden zu Boden. Mit ihr. Am Boden lag sie und auf ihr der Knabe, den Kopf zur Seite gelegt, ihr Mund in seinem spärlichen Haar. Wer bin ich? Ich bin, die dich liebt. Und im Herbst, als die Bäume sich rot färbten vor dem Fenster, an dem sie im Schaukelstuhl saß und sich wiegte und den Knaben, regte sich in ihrem Leib eine zweite Frucht und eine Furcht. Der Zug rollt. Stell dich taub.  Die Wunde „heilt der Speer nur, der sie schlug.“ Im Tunnel.

Freitag, 12. März 2010

ZUG UM ZUG (4): DAMMBRUCH (1994)

Unter die Räder gekommen.
Man hat sie ans Bett gefesselt, an die Infusion gekettet. Der Stoff wirkt wie Koffein, beschleunigt die Herzfrequenz, erhöht die Körpertemperatur. Doch soll sie ganz ruhig bleiben. Sie ist das Gefäß für das Baby, ein zerbrechliches Behältnis, das das Baby nicht halten kann. Sie wartet in der Abenddämmerung. Sie wartet im Morgengrauen. Sie weint, sie weint, sie hat Angst, sie steigert sich in die Angst.

Der Mann, den sie liebt, kommt in drei Stunden. Der Mann, den sie liebt, kommt nach drei Stunden und küsst sie auf die Stirn. Dann setzt er sich ans Ende des Bettes auf einen Stuhl. Der Mann, den sie liebt, bleibt eine Viertelstunde. Sie sagt: „Ich verliere mich.“ Er sagt: „Es wird alles gut.“ Er geht. Er geht drei Monate lang eine Viertelstunde später nach Hause. In ihr wächst das Kind, ihr Kind, sein Kind, das lang erwartete Kind.

Am Ende hilft keine Infusion mehr. Es ist soweit. Das ist die Geburt. Sie weiß es. Keiner glaubt ihr. „Das erste Kind. Das dauert Stunden“ Sie weiß es. Sie schreit. Er sagt: „Beruhige dich doch.“ Es kommt, das Baby kommt, sie weiß es. Es wird sterben, wenn keiner auf sie hört. Er glaubt, dass sie verrückt ist. Er glaubt seit Monaten, dass sie verrückt ist. Sie soll still liegen und ein Gefäß sein und ihn arbeiten lassen und nicht anrufen und sagen: „Ich habe Angst.“ Was soll er sagen? Er ist müde.

Dann geht alles sehr schnell. Das Baby kommt. Es kommt zu schnell. Die Ärzte und Hebammen rennen. Sie wird auf eine Bahre geworfen. Sie wird in den OP gerollt. Sie bekommt eine Atemmaske. DAS BABY! „Zu spät.“, schreit der junge Assistent. „Keine Herztöne mehr.“ MEIN BABY! Kein Schrei. Sie haben ein Bündel aus ihr herausgerissen, einen Klumpen Fleisch und Blut. Kein Schrei. Sie rennen mit dem Bündel davon. Der Mann, den sie liebt, sitzt auf einem Stuhl und sagt nichts.

Sie bringen das BABY. Es lebt. Es ist winzig. ER ist schön. Sie legen ihn in ihre Arme. Sie schaut ihn an. Sie kann ihn fühlen. Das ist mein Sohn. Der Mann, den sie liebt, ist hinter ihr. Mit seinem kleinen Finger streicht er dem Baby über den Kopf. Dann kommt die Hebamme. Sie nimmt das Kind fort. Es muss auf die Intensivstation. Es ist zu früh geboren. ICH WILL MIT. Das ist unmöglich. Sie nehmen das Baby weg. Sie sagen, dass sie nicht bewegt werden darf. Sie hat zuviel Blut verloren. Sie soll sich beruhigen. Sie soll sich ausruhen und schlafen. MEIN KIND. Der Mann, den sie liebt, sagt: „Ich bin müde. Ich gehe nach Hause.“ Und geht. 

ZUG UM ZUG (3): DIE BAHN (1984-1989)

Das war Liebe auf das erste Wort. Die Augen folgten nach. Verbale Tennisspiele. Bewunderung des Genies: Er liest vor. Verleugnung des Begehrens: „Jetzt gerade brauche ich keinen Liebhaber.“ Heißt: Ich will dich. Will dich. Will dich. Alles bereit für eine Verführung: das kleine Schwarze, smokey eyes, tiefrote Lippen. Heute, heute. Der erste Kuss. Leicht verrutscht. Dann richtig. Zusammen in dem schäbigen Hotel. Du. Sanfte Berührungen. Beim ersten Mal geht alles schief. Entdeckung der Körper. Was geht. Was gefällt. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, ob Du mir zusiehst,wie ich vor dem Spiegel mein Unterhemd hochhebe. Hier. Keine Küsse in die Kehle. Küss mich hinters Ohr.

Von nun an nie mehr allein. Einen Tag bei dir, einen Tag mir. Nachts immer hier. Einfacher wäre es, wir hätten eine Wohnung. Warum nicht? Zu mir, zu Dir? Einrichtungen, Küchengeräte, Raufasertapeten kleben. Lieb Dich. Lieb mich. Your blue eyes. Dein bemooster Schoss leuchtet mir, dichtest Du.

Weiter geht´s. Studienabschlüsse. Jobs. Manchmal Du, manchmal ich. „For thou only.“ „Marry me.“ „Dich.“ Neue Städte. „Let´s be grown up." „Mit Dir wage ich alles: MAMA werde ich sein.“ Weiter geht´s nicht mehr.

Mittwoch, 10. März 2010

ZUG UM ZUG (2): HINTERM BAHNHOF (1984-1989)

Unsere Kneipe nahe des Bahndamms hat unschlagbare Preise. Hier gibt´s großzügig ausgeschenkte 0.5 Liter-Gläser: Ein Alt, 2 Kristallweizen, 4 Pils. Pommes RotWeiß für alle. Wir treffen uns in der Holzhütte im Schankraum. „Platz da. Platz da. Mei Leut´ komme.“ Der Teller wird leer gegessen. Mutter Greulich kennt keine Gnade:gigantische Frikadellen, Kartoffelsalat ertränkt in Mayonnaise. Jeder braucht danach einen Dracular. Und noch einen. Absolutistische Könige der Provinz: „Hinterm Bahnhof regieren wir.“ Wenn wir kommen, macht alle Platz. Husch, husch, räumt den Tisch, Pöbel! Noch eine Ladung!

Die wöchentliche Hass-Liste führt über Jahre Bill Gates an. Wir starten eine Kampagne im Anzeiger: „Spenden Sie! Konto-Nr. 2789845.“ Kein Verwendungszweck, keine Versprechungen. Alles ganz legal. Nach dem siebten Dracular scheint die Sache aussichtsreich. "Wie werden wir die Arbeit los?" Philosophisches Seminar. Professor Henne et.al., Ort: Hinterm Bahnhof bei Mutter Greulich.

Außerdem bleibt Zeit, mal über Heidegger nachzudenken. Den alten Nazi, der echt guten Stuß geschrieben hat. Bahnbrechende Entdeckungen: Mit einer Gemarkungskarte von Todtnauberg lassen sich „Holzwege“ ganz leicht entschlüsseln. Wir haben geniale Auftritte vor einem bescheidenen Publikum. Noch ein Bier. Die Rechnung zahlen wir später.

Dienstag, 9. März 2010

ZUG UM ZUG (1): UNTER DEN GLEISEN (1970-1977)

Aufgewachsen nahe des Bahndamms liebte ich es auf der Eisenbahnbrücke direkt unter den Gleisen zu liegen. Die Züge ratterten nur eine Armlänge über mir hinweg. Wenn ich die Hand ausgestreckt hätte, wäre sie von den Rädern zermahlen worden. Nie vergesse ich den unbeschreiblichen Schock im ganzen Körper, wenn die Güterwaggons über mich rollten.

Ich konnte die Übertretung des strikten Verbotes nicht unterlassen, immer wieder musste ich auf die Brücke klettern, mich flach auf den Rücken unter die Gleise legen und im Lärm der herannahenden Züge vergehen. Es war wie ein erster Orgasmus, unerkannt, unerwartet. Sich vollständig aufgeben und zugleich komplett kontrollieren. Das Anwachsen der Angst und deren Überwindung in eins. Die Sucht nach Lust blieb für immer verbunden mit der Geschwindigkeit, dem Lärm der Züge, der Reise nach Nirgendwo, der Bewegung gegen den Stillstand meines Körpers.