Zurück nach Paris: „Poesie will rohes Holz"
Am Anfang ist der Autor nervös. Es geht nach Paris auf Anfrage eines Auftraggebers hin, der „Le Comtesse“ genannt wird. Eine sonderbar spröde Angestellte des Auftraggebers, Jenny Michel, holt den Schriftsteller am Flughafen in Roissy ab, auf einem Motorrad mit Beiwagen. Der Auftraggeber stellt ihm eine kleine Wohnung in der rue de Cheuvreuse, nah Montparnasse: La Nonchalante. „Der Gräfin“, der dies arrangiert hat, ist „selbstverständlich“ ein Mann, den jedoch alle mit „Madame“ ansprechen, fast ehrfurchtsvoll. Was „der Gräfin“ will? Das soll bei einem Essen im Nobelrestaurant „Tour d´Argent“ verhandelt werden. Mit einer Entenpresse wird hier köstliches Mark aus den Gebeinen toter Vögel gepresst. Die Reise des Schriftstellers Alban Nikolai Herbst im Sommer 2010 ins Touristen-Mekka Paris nimmt noch weitere phantastische Wendungen: Ausflüge mit Jenny in eine Kapelle mit blinden Fenstern, dann aber eine Anweisung aus dem Netz: „In die Sainte Chapelle, da müssen Sie hinein“; die Schönheit der Apokalyse sehen, wenn Ostern und Pfingsten in eins fallen. Rinder, die am Ufer der Seine zum Schlachten ziehen, erscheinen vor den Augen des Autors, der auf einem Boot namens „Prada“ überfallen wird und mit blauem Auge, jedoch ohne Geld und Mobilfon davon kommt. Seine Geliebte, eine Löwin, trifft für einige Tage aus Wien ein. Eine schöne Algerierin betört ihn im Hotelflur. Später übernimmt er von einem Elvis-Lookalike die Orchestrierung einer Orgie in einem Techno-Club, an der - grotesk zu Fleisch geworden - auch die boshaften Kommentatorinnen seines Web-Blogs teilnehmen. Aus alldem soll ein Roman entstehen nur für einen einzigen Leser, den Auftrageber, „der Gräfin“.
Am Anfang ist der Autor nervös. Es geht nach Paris auf Anfrage eines Auftraggebers hin, der „Le Comtesse“ genannt wird. Eine sonderbar spröde Angestellte des Auftraggebers, Jenny Michel, holt den Schriftsteller am Flughafen in Roissy ab, auf einem Motorrad mit Beiwagen. Der Auftraggeber stellt ihm eine kleine Wohnung in der rue de Cheuvreuse, nah Montparnasse: La Nonchalante. „Der Gräfin“, der dies arrangiert hat, ist „selbstverständlich“ ein Mann, den jedoch alle mit „Madame“ ansprechen, fast ehrfurchtsvoll. Was „der Gräfin“ will? Das soll bei einem Essen im Nobelrestaurant „Tour d´Argent“ verhandelt werden. Mit einer Entenpresse wird hier köstliches Mark aus den Gebeinen toter Vögel gepresst. Die Reise des Schriftstellers Alban Nikolai Herbst im Sommer 2010 ins Touristen-Mekka Paris nimmt noch weitere phantastische Wendungen: Ausflüge mit Jenny in eine Kapelle mit blinden Fenstern, dann aber eine Anweisung aus dem Netz: „In die Sainte Chapelle, da müssen Sie hinein“; die Schönheit der Apokalyse sehen, wenn Ostern und Pfingsten in eins fallen. Rinder, die am Ufer der Seine zum Schlachten ziehen, erscheinen vor den Augen des Autors, der auf einem Boot namens „Prada“ überfallen wird und mit blauem Auge, jedoch ohne Geld und Mobilfon davon kommt. Seine Geliebte, eine Löwin, trifft für einige Tage aus Wien ein. Eine schöne Algerierin betört ihn im Hotelflur. Später übernimmt er von einem Elvis-Lookalike die Orchestrierung einer Orgie in einem Techno-Club, an der - grotesk zu Fleisch geworden - auch die boshaften Kommentatorinnen seines Web-Blogs teilnehmen. Aus alldem soll ein Roman entstehen nur für einen einzigen Leser, den Auftrageber, „der Gräfin“.
Alles im Netz: „Ich fälsche nicht, sondern dokumentiere.“
Das Besondere dieser Reise-Erzählung, die Alban Nikolai Herbst im Verlag der Kulturmaschinen vorgelegt hat, ist nicht, dass „alles offen im Netz“ schon gestanden hat, auf Herbsts literarischem Web-Blog „Die Dschungel“ nämlich, sondern dass die Erzählung dort sukzessive entstand, Tag für Tag im Sommer 2010, sich fortentwickelnd mit und durch die Kommentare von Leser:innen. Herbst hat diese Netz-Erzählung einer real-fiktiven Reise hier rückübersetzt in die hergebrachte Form des gedruckten Buchs. Es ist dies mithin keine bloß so genannte „Netz-Literatur“, die allenfalls thematisch mit dem Internet „umgeht“ (also zum Beispiel die Protagonisten statt Briefe Emails austauschen lässt) oder schlicht denselben Text ins Netz stellt, der auch gedruckt wird, sondern in der Tat ein literarisches Werk, das sich im Prozess seines Entstehens mit der Struktur des Erzählens im Netz auseinandersetzt.
Auf der ersten Seite der gedruckten Erzählung kündigt der Autor an: „In jedem Fall werde ich mein Weblog führen, damit Sie täglich mitlesen können.“ Was in „Die Dschungel“ im Frühsommer 2010 tatsächlich Anrede an die Leser:innen war, wird im gedruckten Text zum Zitat, des eigenen Web-Blogs, aber auch einer Tradition beispielsweise des Briefromans, der seit je durch eine (fiktive) Herausgeberschaft eingeleitet werden konnte. Die Aufgabe aber des Herausgebers eines vielstimmigen Chores von Mitautoren:innen und Kommentator:innen, die Herbst in seinem Web-Blog real wahrnimmt, wird in der gedruckten Erzählung zur Fiktion. Es entsteht also aus der im Text literarisch gestalteten Dokumentation eines Web-Blog-Herausgebers namens Herbst die fiktive Figur eines gleichnamigen Autors. (Indes gibt es den so Dokumentierten „real“ selbstverständlich auch nicht, denn der in „Die Dschungel“ auftretende Herbst nebst seinen Avataren ist ja dem Herbst aus Fleisch und Blut nur ähnlich, allerdings bis zur Verwechselbarkeit hin ähnlich.) Wenn schon im Briefroman des 18. Jahrhunderts ein Verwirrspiel zwischen Fiktion und Realität inszeniert wurde, so zeigt Herbsts Rückübersetzung aus dem Netz ins Buch, wie der im Netz bloß fiktive Autor, der in Wahrheit ein Herausgeber ist, sich selbst als Autor erst „verwirklicht“, indem er sich – als Gestalt der Erzählung - erfindet. Nichts weniger ist daher in dieser Erzählung zu beobachten als die Suche nach und die Restauration des in den Tiefen des Netzes verschwundenen Autors.
Ein Autor steckt immer in der Krise; der Autor eines literarischen Web-Blogs zumal. Sein Leben breitet Alban Nikolai Herbst nun schon seit Jahren vor Leser:innen im Netz aus, fast täglich schreibend, eine Soap opera mit literarischem Anspruch, eine totalitäre Verdinglichung des Ichs, alles ins Material verwandelnd, so dass das Subjektive scheinbar nur noch als Schein vorspiegelt werden kann, die Aura preisgebend an die vollständige, zirkuläre Kommunizierbarkeit von allem mit allen, eine unendliche Troll-Story, die von sich aber stolz behauptet, medialen Widerstand gegen eben diesen Entfremdungszusammenhang zu setzen, indem sie immer noch und wieder Worte und Sätze, Gespräch und Tagebuch in Kunst wandelt, eigenmächtig Sprache formend und Sinn stiftend. Die „Fenster von Sainte Chapelle“ erzählen eine Geschichte dieses Widerstands.
Das Leben als Roman: „Pheromonal wirft alle Poesie ihren Blick in die Subjekte. Derart sachte. Er beschädigt sie nicht.“
Die Reise nach Paris führt, der Erzähler betont es mehrfach, den Autor Herbst auf den Spuren seiner selbst zurück zu seinen Anfängen. „Le Comtesse“ ist es, der, verdächtig genug, diesen Hinweis zuerst gibt: „Sie müssen an Ihre Jugend anknüpfen. Es ist Zeit. Schieben Sie mal Ihren ganzen Kram aus Technologie und Neuen Medien beiseite und schauen sie nach, wer immer noch darunter schläft.“ Hinter der ästhetischen Aufgabe, die Herbst sich selbst gestellt hat, nämlich dem Blog eine eigene literarische Form zu verleihen, lauert, behauptet gefährlich sein rätselhafter Auftraggeber, ein älterer Auftrag an den Schriftstellern, eine Rückkehr zur „Herkunft“, an die sich zu erinnern „die Menschen“ weigerten. Zurückbiegen soll sich Herbst, sagt dieser erschreckende Mäzen, in seine Jugend, aber als jener phantastisch Erfahrene, als den er sich selbst schreibend, von Erzählung zu Erzählung, erfunden hat. Gerade ihn, Herbst, habe „der Gräfin“ ausgewählt für diese Aufgabe, ihm den Roman zu schreiben, nach dem ihn verlange, weil Herbst sich so sehr mühe, allzeit seine Unmoral öffentlich auszustellen und doch in Wahrheit ein moralischer Mensch sei. Herbst vermöge es aus eben dieser paradoxen Haltung die „Freude“ am Leben auszudrücken und das sei es, was ihn, „Le Comtesse“, herausfordere: „Ich nehme Ihnen Ihre Moral, Herr Herbst.“
Es ist unschwer zu erkennen, dass hier ein aus der literarischen Tradition nur zu bekannter Deal angeleiert wird, der Verkauf der Seele, bei dem aber – und das ist die Pointe hier – nicht der Käufer der Teufel ist. Denn „Le Comtesse“, so spekuliert der Schriftsteller mit seiner schließlich eingetroffenen Geliebten, könnte viel eher Gott selbst sein: „Meine Güte.“ - und Jenny Michel, seine ledrige Motorrad fahrende Botin, der Erzengel Michael. „Alles Verkehrungen“ – so, meinen die beiden Liebenden in ihrem Hotelzimmer, gäbe die Geschichte doch Sinn. Worum es gehen könnte in diesem kosmischen Kampf, in den – nicht zum ersten Mal, übrigens ("Eine sizilische Reise") - Autor Herbst gezogen wird? Den Gegensatz zwischen einem weiblichen und einem männlichen Prinzip, ahnt der Schriftsteller. „Wer Leben gibt, darf es auch nehmen.“ Gebären und Töten, der vergessene grausame Kreislauf, gegen den das Erzählen verzweifelt vergeblich im Schöpfergestus anschreibt, Geschichte und Geschichten findend, wieder und wieder und wieder. Damit doch einmal alles zu einem Ende komme und Sinn ergebe: Apokalypse now. Aber es ist leer geworden um dieses menschliche Konstrukt, auf dem alle Anstrengung der Theodizee gründet. Es geht ja, wie jede sieht, doch immer irgendwie weiter, ganz flapsig. Alles wird gespeichert und vergessen. Und morgen früh wird ein neuer Post eingestellt. „Kosten Sie den Geschmack der Schöpfung.“, fordert „der Gräfin“. Er braucht den Autor dringend, wie man sieht, um die Fiktion lebendig zu halten. Ist das jenes Verbrechen, zu dem – wie der Erzähler zu verstehen meint – „Le Comtesse“ ihn gedungen hat: Die Wahrheit des zyklischen Laufs noch einmal in einer allumfassenden Roman-Erzählung zu leugnen, wider besseres Wissen, eine Geschichte zu erfinden vom Anfang her auf das Ende zu?
Nur über ihre Leiche: „Es hat mich der Gräfin zu einem Verbrechen gedungen.“
Am Ur-Grund des Erzählens, zu dem sich Herbst zurückbiegen soll, liegt die Schuld. Die Novelle „Die Orgelpfeifen von Flandern“, die ein junger Herbst, vielleicht sogar noch bevor er sich von seinem vergangenheitsschwangeren Geburtsnamen lossagte, in Paris schrieb, handelt von der Rückkehr des Protagonisten Ansgar an den Ort, wo er seine Geliebte Jézebel im Stich ließ und verriet. Das „Mysterium“, das dem älteren Herbst der „Fenster von St. Chapelle“ beim Besuch in der Kapelle mit Jenny fehlt, das den Ort „weihen“ könnte, ihm Paris „heilig“ machen, ist die weibliche Leiche am Grunde der Poesie. Doch er ist kein mörderischer Erzähler mehr, er „fiel ab.- “ vom Glauben an die Heiligkeit der „wahren Geschichte“, der „Einzigen“ und „Allumfassenden“ – er diversifizierte sich und die zu erzählenden Geliebten und Geschichten: Aus eins mach zwei, mach drei mach vier... Statt das Leben literarisch in der symbolischen Figur der einen geopferten Geliebten zu Tode zu bringen und so zum Schöpfer seiner Geschichte zu werden, poetisiert der Blog-Autor die Banalität des Alltags und erhebt sie in den Stand der Dichtung, - derweil er leben lässt: So liegt gefeiert die Doppel-Helix aus den Nylons der Geliebten auf dem Boden des Hotels. Es ist dies gleichermaßen eine Empörung gegen die Selbstgerechtigkeit des monotheistischen Gottes und ein Aufstand gegen den tradierten Schöpfungmodus männlicher Literatur.
Umgekehrt geht es um die Rechtfertigung Jézebels, der anstrengenden Geliebten, der Macht hinter dem Thron, die der junge Autor seinen Protagonisten noch verraten ließ, um mit einer roten Lederstiefelette in der Hand die Trauer zu zelebrieren. Jetzt, 25 Jahre später, steht kein Stellvertreter mehr, sondern das Herbst´sche Erzähler-Ich selbst der schauerlichen Orgie vor, die „Gewaltfreiheit und Harmonie“ verwirft, sich der Versöhnung verweigert und dem Paradieshüter, dem Erzengel Michael, spottet. Er schwingt sich zum Teufel auf, zum gefallenen Engel, der, statt die Vergebung anzunehmen, um das ewige Leben zu gewinnen, das endliche Leben verherrlicht: „Ich stemme mich weiter dagegen, und je mehr wir sind, die darum wissen, und die dennoch ihr Ja nicht verlieren, dieses uneingeschränkte Ja zum Leben, und je nachdrücklicher wir aufzubegehren wagen, um unsere eigenen Frauen und Herren zu sein, um so größer wird sie, und voller, die Welt. Nicht die Einsicht darein und Ergebung darunter, was einer nicht darf, soll uns bestimmen, sondern was wir glutvoll wollen und sein wollen – selbst auf das Risiko hin von Gefährdung, weil selbst die Krankheit es wert ist, die Lust und den Atem, ja auch der Tod, wenn er kommt.“ „Le Comtesse“, der Allmächtige von Paris, hat diesen Kampf ganz offensichtlich diesmal verloren; der Autor, den er sich gefügig machen will, dass er ihm die große Erzählung noch einmal herschreibt, widersteht – und weigert sich auf menschliches Leben mit jener Verachtung zu schauen, die ihm der Alte im Wortsinn „schmackhaft“ machen will.
Das Wunder von Sainte Chapelle: „Euer Hunger indes wurde Architektur und Gemälde, euer Aufschrei um Hilfe zu Gedichten und Lied.“
Paris: Sainte Chapelle |
Doch endet die Herbst´sche Erzählung, die zweite Pariser Novelle, wenn man so will, nicht hiermit. Denn auch dieser Autor hat eine Entsagung zu leisten. Die Erlösung, die herbeigegrunzt, gestöhnt, gefickt wird, hat ihren Preis. Er mag der Lust und Liebe entsagende Götter-Bote nicht sein, als der noch Goethe sich im „Wilhelm Meister“ imaginierte oder Hölderlin, tragischer, im „Empedokles“. Erwachend im Techno-Club „Paradies von Pantin“ erkennt er, dass er „raus“ muss: „Solch ein Ekel schüttelte mich.“ Erst von hier aus, aus dem Ekel, der Leere, dem Abort findet er zum Mysterium der „Fenster von St. Chapelle“, an den Anfang, wo alles verständlich ist und verstanden wird, wo die tiefe Sehnsucht nach einer Sprache, die ewig ist und stimmt, sich erfüllt. Er ist demütig geworden, nicht aus Unterwerfung, sondern durch Trotz; eine paradoxe Fügung. Jetzt vollzieht sich im Morgenaufgang das Wunder, alle Fenster leuchten: „Das war kein Wunder, sondern Physik. Sie nahm dem Wunder nichts, grad sie nahm ihm nichts. Es wurde Farbe, und Wärme wurde.“ Er muss und er wird das zurückgeben, an einen alten Priester, der ihn in der Kapelle schon erwartet: „Indem ich das aber sagte spürte ich, wie das, was ich geworden war, seit ich die Sainte Chapelle zum ersten Mal betreten hatte, aus mir heraus- und in ihn hineinströmte. Meine Nacktheit strömte in ihn ein. Ich verlor sie, und das Wort verlor ich. Es ging ganz auf ihn über.“
Der Autor schwingt sich nicht zum Gegen-Schöpfer auf. Er nimmt nichts mit: „Es gibt keinen Teufel.“, sagt er der Berliner Freundin, als er wieder zurück ist. Er kehrt zurück in ein Leben, in sein Leben: „Ich habe einen Sohn, den ich liebe. Als Vater muss man hell sein. Düsternis tut Kindern nicht gut. Ich darf an einem Schreibtisch sitzen, den ich mir und wie ich´s mir ausgesucht habe. Mich haben Frauen geliebt, manche lieben mich noch, andere werden mich lieben; ich wurde gesegnet, darüber gar keinen Zweifel zu haben (...) Das darf uns aber nicht täuschen. Unter uns liegt etwas anderes, in uns, das nicht geheuer ist. Wir können so menschlich sein, wie wir wollen, i c h kann so licht sein, wie ich nur will. Die Dämonen sind immer schon drin. Und plötzlich tritt das heraus.“ „Le Comtesse“ muss verzichten – auf den Dämon, für dieses Mal. Der Autor auch, weil er leben will – und nach einer literarischen Form sucht, die das Leben enthält, ohne es zu missbrauchen.
Und Jenny Michel: „Mach dich klein. Mach dich fließend.“
„Für das Komplette und Fertige sind die Bücher zuständig (etwas, das ich an Büchern nicht mag), für den Prozess, also das Prozessuale, ist es Die Dschungel. Irrtümer gehören unabdingbar dazu. Was mich antreibt, auch vom Temperament, ist der Gedanke der damals noch jungen Moderne, dass die Entstehung des Kunstwerks selbst zu einem Teil des Kunstwerks werde.“ (A.N.Herbst: Kleine Theorie des litearischen Bloggens, etkbooks) Es ist nix damit, hatte Thomas Hettche im April 2010 in der FAZ behauptet, mit der „Netz-Literatur“. Da verfange sich doch die Literatur bloß im beliebigen Dauergeplauder. Statt der Verwirklichung einer Utopie der Moderne sah Hettche im literarischen Bloggen einen Albtraum wahr werden, in dem das Werk zum bloßen Akzidenz eines (hysterischen) Ich werde. Eine paradoxe und abscheuliche Situation: Der auratische Autor aufgewertet scheinhaft durch Omni-Präsenz und gleichzeitig herabgezogen auf eine Ebene der Billigkeit, wo nur mehr Prominenz zählt (mitsamt ihrer Verfallszeit) und nicht das unvergessliche Werk, das hineinragt in die Unendlichkeit. Der Vorwurf kann Herbst, wie wohl er sich getroffen fühlte, nicht treffen. „Die Fenster von St. Chapelle“ erheben den Anspruch zum Werk ganz ungeniert und mit Recht - wie aber auch das literarische Web-Blog, das Herbst dem Sohn widmet. Im Buch wird erzählt, wie der Autor sich wundersam die lichte Aura zurück erschreibt aus dem Leben, das ihm Roman wird. Und im Web-Blog hält „der Gräfin“, gegen alle Wahrscheinlichkeit, den Kontakt und den Auftrag aufrecht und mischt weiter mit. Wir werden sehen.
William Blake: Höllensturz |
Der Prozess ist nicht abgeschlossen, der Autor nicht (endgültig) gerettet, auch „das Werk“ nicht – und: der Teufel – gibt es ihn etwa doch? Man könnte (und Frau sollte) „Die Fenster von St. Chapelle“ auch noch ganz anders lesen: von Jenny Michel, dem gefallenen Rache-Engel, von ihrem ausgetrockneten, ledernen Körper her, der missbraucht wurde, Jahrhunderte lang, die sich unterwirft und doch entkommt – oder nicht? Ein anderer Engel sendet am Ende eine Nachricht: „Gabrielle U.Riel“. Die Wohnung in Paris bleibt frei und zur Verfügung. Der Autor wird – erwartet.
„Indem ich das aber weiter verfolgte, geriet für alle Zeit das Chaos in die Theologie“
Liebe Melusine,
AntwortenLöschend e r Tobak ist nicht unstark.
Mir gefällt „Der in den Tiefen des Netzes verschwundene Autor.“ Die Wahrnehmung der realen Herausgeberaufgabe im Blog „Die Dschungel“ wird im Romantext zur Fiktion. Die Anrede zum Zitat. So stelle ich mir in der Tat „Netzliteratur“ vor (wenn ich denn etwas davon verstünde). Ich bin interessiert, denn ich las vor kurzem einen ähnlich gemeinten Text (jedenfalls verstand ich den so verstanden). „Ein Internetroman“ habe ich ihn im Stillen für mich genannt.
Hier wie dort frage ich mich, wie unterscheide ich den „Internetroman“ von dem Abschreiben auf Papier dessen, was im Netz vorformuliert wurde? Wie kann der normale Leser die Rückübersetzung vom Abklatsch unterscheiden?
Und: Muss er dafür den Netztext kennen, oder kann man solche Bücher (also auch die „Fenster“) unbefangen, ohne Vorkenntnisse lesen, als Nicht-Blogger? Und wenn ja: Mit demselben Gewinn?
UndUnd: Lesen die letzten Leser auf dieser Welt so etwas? Oder lesen Sie es gerade, weil jung, internetaffin und daher interessiert, weil man Alban Nikolai Herbst aus dem Netzt kennt (so die denn überhaupt noch etwas kennen, was mit Literatur zu tun hat)?
Beste Grüße
NO
Lieber NO,
AntwortenLöschendie "Fenster von Sainte Chapelle" sind, denke ich, kein "Internet-Roman" (weder Internet noch Roman ;-). Der Text und sein Autor, so lese ich es, nehmen "nur" weiterhin ernst, was seit der Moderne gilt: dass ein Werk seine Produktionsbedingungen und -mittel zu reflektieren hat. Den Schwerpunkt (einen Schwerpunkt) der "Fenster"-Novelle sehe ich in der Reflexion der Autorschaft. Dabei liefert Herbst eben nicht eine andere Version seiner "Kleinen Theorie des literarischen Bloggens", sondern e r z ä h l t vom Autor, der sich ausstellt und auflöst, auch davon, wie das Erzählen selbst in seiner - ja, ich behaupte das! Gott- und Schöpfertum stiftenden - Funktion durch das neue Medium in eine Krise gerät: dafür steht "Der Gräfin" - und der Autor geht - beinahe? - noch einmal den Pakt mit ihm ein. Er muss ja auch. "Rückkehr zur Ur-Erzählung". Aber er weigert sich.
Man könnte freilich - und ich habe das auch teilweise getan - die Änderungen, die Herbst am Text bei der Rückübersetzung vollzogen hat, im Einzelnen nachweisen. Für einen Text im Blog taugt eine solche Untersuchung nicht, das wäre schon eine wissenschaftliche Arbeit. Sie beziehen sich, so weit ich das sehe, auf zweierlei: eine Konzentration der Erzählung, die die Kommentare nur noch da einbezieht, wo sie sich auf die Autor-Position (die Aura des Autors für Leser:innen bzw. ihre In-Frage-Stellung) beziehen und die Zeitebene, bei der noch mehr als in der Netz-Erzählung die "Durchdringung" gesucht wird, d.h. im Grunde ein "Ent-Daten".
"Die Fenster von Sainte Chapelle" sollte man auf jeden Fall als Nicht-Blogger lesen! Sie schreiben ja auch andere Geschichten im Herbstschen Kosmos fort: den kosmischen "Geschlechterkampf" beispielsweise - und da - wenn ich das mal so frech sagen darf - hat sich "der Autor Herbst" (also der fiktive!) seit "Der sizilischen Reise" doch ganz stark weiterentwickelt. Vergleichen Sie mal!
Herzliche Grüße
Melusine
(Hoffe wir sehen uns Berlin!)
Ganz unbescheiden (hab ich mir mühsam antrainiert), verlinke ich mal auf Texte zum Thema Literatur im Internet, die ich geschrieben habe:
AntwortenLöschenallgemein:
Literarisches Schreiben im Web 2.0
zu meinem Roman-Projekt "Melusine featuring Armgard"
Brief an eine Literaturwissenschaftlerin
Melusine, Armgard und ich
Man bekommt ja Kopfschmerzen von dieser dauernden Rechtfertigungstour.
AntwortenLöschenDiesen Schmerzen ist doch leicht abzuhelfen. Nicht lesen! Oder was anderes lesen!
AntwortenLöschenVielleicht kommt das noch: Die Hinweispflicht bei Blogs "Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen." Sie können dann gleich in die Kommission einrücken, die dafür gebildet wird, um die Kennzeichnungsetiketten zu vergeben. Da kriegen Sie Ihr Aspirin dann umsonst, bestimmt. Und ich glaub, dieser Job passt zu Ihnen. Das hab ich so im Gefühl.
Endlich mal im Original.
AntwortenLöschenAber Sie müssen doch zugeben: genau genommen gibt es gar keinen so großen Unterschied zwischen Texten im Netz und gedruckten. Die Frage nach dem, wie etwas g e m a c h t wird kann man beim Juwelier oder in der Küche stellen. Der fertigen Text macht kein Aufhebens davon; das ist geradezu d a s Kriterium für ein gelungenes Werk. Die "junge" Moderne war ein wenig Kind ihrer technizistischen Zeit. Das ist vorbei.
Die Auftraggeber eines Portait bei, sagen wir - Bellini, kamen erst gar nicht auf den Gedanken die Frage nach der Machart zu stellen.
Das kommt Ihnen jetzt altmodisch vor.
Das "fertige" Werk "macht kein Aufhebens", sondern erzählt davon. (Für eine wie mich, allerdings, gibt es keine "fertigen" Werke, die gelungen sind. Gelungen sind sie (unter anderem), wenn sie nicht "fertig zu machen" sind. - Nicht einmal durch einen "altmodischen" Betrachter/Leser. Deshalb kommt mir das auch nicht "altmodisch" vor, sondern schlicht falsch.)
AntwortenLöschenWorauf "Auftraggeber" so kommen, das sieht man ja auch heutzutage. Selten, dass einmal einer auf etwas kommt, das es verlohnte. Es ist schon immer drum gegangen, die Kunst an der Kunst den Auftraggebern sozusagen "unterzujubeln". Den meisten jedenfalls.
Aber: Danke! - Diesmal haben Sie ein Argument formuliert. - Und I h r e Sicht auf Kunst dargelegt. Das ist doch ein Fortschritt...
Sie wollen doch nicht sagen, dass der Wallenstein unfertig geblieben ist? Die Tatsache der Unabgeschlossenheit des Kunstwerkes, seine innere Dynamik, ist -wie billig- eine ganz andere Frage.
AntwortenLöschen"Kein Aufhebens" meinte den technischen Aspekt.
In einer Zeit, wo Schriftsteller nur noch für Schriftsteller schreiben, kann das allerdings zum Problem werden.
Kein Kunstwerk kann etwas für seine Auftraggeber. Nur Idioten machen das Artefact oder gar dessen Produzent verantwortlich für den Ort seines Erscheinens (politisch motivierte Kunst selbstverständlich ausgeschossen, denn diese legt es ja geradezu darauf an).
Wieso aber sollte man Leuten, die keine Ahnung haben, etwas "unterjubeln"; dafür gibt es ja die Pädagogen und Didaktiker.
Unabgeschlossen - unfertig - das ist nun Wortklauberei. Und führt - s o - zu nix. - Allerdings gibt es klassische Werke und romantische. In d e m Zusammenhang ließe sich "das Faß" aufmachen. Ich schätze die klassischen, aber ich gehöre den romantischen. Das scheint mir ist bei Ihnen anders.
AntwortenLöschen"Der technische Aspekt" am Kunstwerk ist nicht nachrangig, sondern Teil desselben, immer schon. Kittler und Flusser und viele andere habe das gut zeigen können - und damit der Kunst nichts weggenommen (was mir als Befürchtung hinter Ihren Einwänden zu stehen scheint). Es ist auch keineswegs so, dass deshalb "Schrifsteller nur noch für Schriftsteller" schrieben. Es ist ja grade anders herum: Das Bedürfnis zu Erzählen ist ein Urmenschliches (und meine These wäre: Es ist aufs Engste verknüpft mit der Gottsuche.) Diese Bedürfnis wird nun durch unterschiedliche Medien "befriedigt" - und verändert sich dadurch wieder selbst, denn die Verhältnisse zwischen Erzähler, Erzählzeit, Hörer:in/Leser:in, all das ist durch die Technik Veränderungen unterworfen. Selbst Platon war schon überzeugt, dass seine Philosophie sich verändere, wenn sie aufgeschrieben werde. Und er hatte Recht damit!
Zurück zu Herbsts Erzählung - um die es ja hier eigentlich geht (mir zumindest, haben Sie sie gelesen?): Er erzählt eine Geschichte von einem Autor, der aufgefordert wird einen Roman für einen einzigen Leser zu schreiben und dem dies als ein "Verbrechen" erscheint, zu dem er gedungen wird. Nun können Sie sagen: Das ist eine Geschichte, die nur Autor:innen zu interessieren braucht. Ich glaube das nicht: Denn der Autor, der hier erzählend eine große Ähnlichkeit mit "sich selbst" (?) erzeugt, erzählt eben auch davon, wie er sich selbst erzählt hat (von seiner ersten Novelle bis in die Gegenwart). Und - in gewissem Sinne - erzählen wir uns alle - und wir stehen vor den medialen Voraussetzungen, vor denen auch "er", der Protagonist der Erzählung steht.
Aber: Ich habe ja gesagt, man könnte das Ganze auch von ganz woanders her lesen: von Jenny und ihrer Geschichte. Dann ginge es um noch etwas anderes. Ganz ohne Technik. Vielleicht mögen Sie diese Lesart vorschlagen?
Lesen Sie die Novelle doch mal!
Anders, ja.
AntwortenLöschenKittler und mehr noch Flusser haben wohl einiges in der Medientheorie gleistet. Aber eine interessante Theorie methaporischen Sprechens findet sich bei ihnen nicht. Die Ausführungen von Josef König, Sein und Denken, sind hier mit Nutzen heranzuziehen.
Das Fass sollte geschlossen bleiben.
Den Herbst habe ich noch nicht gelesen, das haben Sie richtig vermutet. Ich hole es nach. Sollten mir dabei entsprechende Gedanken kommen, teile ich Sie mit.
Wenn Sie von Gott im aussertheologischen Sinne sprechen... hätten Sie am Ende sogar recht, aber nur am Ende.
Metapher
AntwortenLöschenJa, das ärgert mich auch immer, dass man nix korrigieren kann bei Blogger.
AntwortenLöschenRomantik und Klassik - das "Fass" ist in der Tat zu groß, um es hier rein zu rollen. Zur Zeit. (Es grummelt aber schon. Ich beuge mich grade tief über die Texte der Günderode.)
König - das tut mir leid - kenne ich nicht und kann dazu nichts sagen. Ernst Cassirer, allerdings habe ich mit viel Gewinn gelesen. Doch will ich - aus Gründen, die nicht nur, aber doch auch in meinem Geschlecht liegen - keines einen Meister Schülerin sein.
Ich bin affirmativ. Bis zur Verleugnung. Versuche zu verstehen. Hier Herbst. Ja, ich freue mich, wenn Sie Ihre Gedanken zu diesem Text mit mir teilen. Hier.
Am Ende? Die Pointe ist ja gerade, dass es - am Ende - kein Ende gibt.
Liebe Melusine,
AntwortenLöschenIhr Text über Herbsts 'Fenster' gefällt mir sehr gut, und ich denke, Sie werden dem Buch wirklich gerecht. Seit ich das Buch im vergangenen Jahr las, hat es mich geärgert, dass sich niemand dazu kompetent äußerte; nun ist es geschehen.
Dank sagt dafür, PHG
Danke! Die Besprechung ist ja schon ein Jahr alt. Tatsächlich reizte es mich, die Erzählung noch einmal zu lesen, um sie eine Interpretation zu entwerfen, die Jenny in den Mittelpunkt stellt. Allein - es fehlt mir die Zeit dazu. Schön wäre es auch, wenn ANH sich tatsächlich an einer Fortsetzung versuchte.
Löschen