„There is no gender identity behind the expressions of gender...
identity is performatively constituted by the very 'expressions' that are said to be its results.“
(Judith Butler)
identity is performatively constituted by the very 'expressions' that are said to be its results.“
(Judith Butler)
Anastasia/Pjotr*
Es fing als Wette an. Einem begabten Studenten wie Pjotr müsse es doch gelingen, im Netz eine überzeugende Kunstfigur zu schaffen: Anastasia, eine aufregend schöne und kluge Kunststudentin ukrainischer Herkunft. Pjotr inszeniert eine Serie von „Selbstporträts“, die er „Meine Poren“ nennt und in einem Blog zusammen mit fiktiven Tagebuch-Einträgen und ästhetischen Essays der Anastasia veröffentlicht. Anastasias Blog zieht genau das Publikum an, das sich er sich erhofft hat: Geisteswissenschaftler und Galeristen, überwiegend männlich, im Alter zwischen 30 und Anfang 60. Das Blog "ANASTASIA" gilt in der Kunst-Blogger-Szene als authentisch, weiblich und eigenwillig. Mehrere Galeristen reißen sich schon darum, "Anastasias" Bilder unter Vertrag zu nehmen.
Paradise Queen/Peter Kanter
Sie nennt sich im Netz „Paradise Queen“ und zeigt auf Fotos ihre netzbestrumpften langen Beine vor. Ihr Gesicht sieht man nie. Paradise Queen bringt die Männer, mit denen sie chattend verkehrt, in durchschnittlich weniger als 20 Minuten zum Orgasmus. Während sie die Kerle mit „dirty talk“ versorgt, sucht sie für ihren anderen Account Katzen-Content. „Paradise Queen“ wurde als Peter Kanter vor 47 Jahren in Braunschweig geboren.
Katherina Lisper/Helga Schneider
Katherina Lisper heißt auf Facebook „Helga Schneider“ und trägt auf dem Profilbild fürs Gesichterbuch eine strubbelige Perücke wie ihr fast gleichnamiges männliches Idol. Sie kann „Katzenklo“ so gut imitieren, dass kaum jemand den Unterschied erkennt. Katherinas Stimme war immer schon ungewöhnlich tief. Sie fühlt sich als Frau, doch wird sie oft für einen Mann gehalten.
Gay Girl in Damascus/Tom MacMasters
Er gab sich als lesbische syrische Bloggerin aus und die Weltpresse griff während des "Arabischen Frühlings" gern auf seine Stories auf dem Blog „A Gay Girl in Damascus“ zurück, denn er bediente exakt die Vorstellungen weißer (männlicher) Agnostiker aus dem Westen darüber, wie sich eine muslimische Bloggerin, die Frauen begehrt, fühlt. Tatsächlich lebte der Autor des Blogs, Tom MacMaster, als Langzeitstudent in Edinburgh und tat sich schwer damit, endlich sein Examen abzulegen.
Blue Rhonda Latrec
Blue Rhonda Latrec war ein Vierteljahrhundert lang die Begehrteste im Freudenhaus von Montgomery. Als sie im März 1929 in Würde und umsorgt von ihren Freundinnen starb, hatte sie eine letzte Überraschung für die parat, die sie liebten: Ihre Geschlechtsteile waren ungewöhnlich klein, aber unverkennbar die eines Mannes: „Liebe Freundinnen“, schrieb sie in ihrem Abschiedsbrief, „ich bin nicht der Mann, der ich einst war (Lacht gefälligst!).“ Sie wollte nie ein Junge sein oder ein Mann werden. Als Frau aber, zog sie als Fazit, habe sie "ihre Sache gut gemacht".
Das Geschlecht ist ein Konstrukt, wie überhaupt Identität als eine veränderliche und veränderbare Kombination aus Nachahmungen und Erfindungen begriffen werden kann. Lip-Gloss kann zur Inszenierung von Weiblichkeit gehören, muss aber nicht. Die Konstruktionselemente sind nicht völlig frei wählbar, aber die Optionen vielfältig. Das soziale Geschlecht und das biologische Geschlecht kommen auch weiterhin in einer Mehrzahl der Fälle zu oberflächlicher Übereinstimmung, ohne dass dies als zwingend vorausgesetzt werden kann.
Blue Rhonda Latrec ist eine liebenswerte Figur aus einem Roman von Rita Mae Brown, Gay Girl in Damascus und „ihre“ Enttarnung als westlicher Bartträger löste im vergangenen Jahr in der Netzgemeinde Empörung aus, Katharina/Helga, Anastasia/Pjotr und Paradise Queen/Peter Kanter sind Figuren, die nicht zufällig große Ähnlichkeiten mit "realen" Charakteren aus der Netzwelt haben (Namen geändert).
Wer wird hier korrekt dargestellt und vorgeführt, wer wird verletzt, wer ist betrogen? Können Kategorien wie Wahrheit und Lüge, Identität und Rolle, Authentizität und Inszenierung überhaupt noch verwendet werden? Tatsächlich ist es so, dass jedes Rollenspiel von der Imagination eines Originals lebt, jede Inszenierung einer Frau davon, dass es die Idee des Weiblichen gibt. Erst vor dieser – irrealen – Folie kann die Lüge wahr werden oder als Betrug ent-täuschen. Moralische Kategorien werden in avancierten Theorie-Kreisen allerdings verworfen. Der Borderline-Journalismus findet im Netz sein unbegrenztes imaginäres Ausbreitungsfeld. Realität und Fiktion verschwimmen ununterscheidbar miteinander.
Doch fühlt sich das nicht in jedem dieser Fälle gleich an, nicht für mich. Rita Mae Brown hat mit Blue Rhonda Latrec eine fiktive Frau erfunden, die wurde, was sie sein wollte, also nicht mehr der Junge, als der das Baby erkannt wurde. Paradise Queen gibt den Männern, die mit ihr chatten, genau das, was die von ihr erwarten. Helga Schneider parodiert offen nicht den Mann, den sie imitiert, sondern die Frau, als die sie nicht immer erkannt wird. Sie eignet sich die Kränkung an und verwandelt sie in eigenes Vermögen. Das Spiel, das diese drei mit ihrer Identität treiben, (ent-)täuscht niemanden.
Bei Gay Girl in Damascus und Anastasia liegt der Fall anders. Beide suggerieren den Leser:innen und Betrachter:innen genau das, womit sie ihr Spiel treiben: Identität und Authentizität. Indem ein Mann aus Edinburgh behauptet, die authentische Stimme einer lesbischen Frau aus Damaskus zu sein, enteignet er gleichsam lesbische, muslimische Frauen von einer potentiellen eigenen Stimme, weil seine Erzählung viel wahrscheinlicher bedient, was seinesgleichen sich unter einer lesbischen, muslimischen Frau vorstellt. Was er als sie zu sagen hat, wird im Westen unter (männlichen, oft heterosexuellen) Redakteuren authentischer wirken, als alles, was eine zu sagen hätte, die wirklich unter solchen Bedingungen lebt. Pjotr erfüllt, indem er Anastasia schafft, sich selbst und anderen Intellektuellen den Wunschtraum von einer Frau, die klug und belesen ist, einwandfrei heterosexuell, offen, aber nicht offensiv (Osteuropa eben!), gerade so zickig, dass es noch attraktiv, aber nicht zu anstrengend wirkt. Pjotr macht mit Vergnügen Männer, die – in seiner Vorstellung – etwas weniger komplex konstruiert sind als er selbst, in jenes fiktive Traumgeschöpf verliebt und amüsiert sich beim Sonntagsfrühstück mit Freundin Julia köstlich über deren schmeichelnde Kommentare unter den „Poren“-Posts. Nähme Pjotr seine Maske ab, gäbe es zwar keinen Sturm der Entrüstung wie im Fall von Tom MacMasters, dazu ist Anastasia nicht berühmt genug. Doch in so mancher Bücherstube und Galerie würde ein älterer Herr wohl traurig erröten.
Die Frau als Leerstelle
Beim Spiel mit Identitäten und Geschlechterrollen kommt es - wie überall - darauf an, die Machtverhältnisse zu bedenken. Weder in der sogenannten realen Welt, noch in der der Imaginationen herrscht Geschlechterparität. In den herkömmlichen Repräsentationen des Weiblichen wird die Frau „als Objekt und Fundament“ eingesetzt, wie Teresa de Lauretis geschrieben hat: „Der Wert der Frau im Netz der kulturellen Repräsentationen besteht darin, gleichsam Telos und Ursprung des männlichen Begehrens und des männlichen Drängens nach Repräsentation zu sein, gleichsam Objekt und Zeichen seiner Kultur und seiner Kreativität. Damit ist die Position der Frau innerhalb dieses semiotischen Netzes eine Leerstelle – weder repräsentiert noch symbolisiert, sondern dazu bestimmt, die Repräsentation selbst zu verkörpern.“
Unter der weiblichen Maske
Solange (und also noch lange) es darauf ankommt, diese Leerstelle zu besetzen, ist die Selbst-Inszenierung eines Mannes als Frau problematisch. Noch sind die vielfältigen und dissonanten Stimmen der Frauen, durch die erst Bilder unserer selbst und unseres Begehrens entworfen werden, nicht genügend gehört und gesehen worden, haben noch kaum ein Echo gefunden. Identitäten sind kein Eigentum und können daher auch nicht einfach angeeignet werden. Identitäten sind vor allem Zuschreibungen von Außen: die Identität der Frau wurde im Patriarchat durch einen männlichen Blick entworfen (wie die Identität des Schwarzem im Kolonialismus durch den der Weißen). Diese Entwürfe wirken fort, da sie sich bis in die Körpersprache der Definierten eingeschrieben haben. Beim Spiel mit ihnen bestehen daher weiterhin unterschiedliche Freiheitsgrade.
Maskentanz
Der Tanz ist eröffnet. Gerne darf eine Maskerade inszeniert werden. Tragen Sie Zopf! Binden Sie sich ein Bananenröckchen um! Malen Sie sich die Lippen an! Fassen Sie sich, die Hüfte schwingend, in den Schritt! Binden Sie sich eine Krawatte zwischen die Brüste! Niemand will sie hier durchschauen! Sie müssen sich nicht offenbaren! Wir wollen nicht hinter ihre Maske sehen. Wir werden Ihre Maske wenden. Denn: Wir leben jetzt in Zeiten des Maskenwendens; wir schauen in die Innenseite der Maske hinein. Halten Sie sich das vor Augen! „Das Umwenden der Maske verändert ihren Ort: sie ist nicht mehr vor dem Gesicht, sondern unter den Händen.“, schrieb der große Medientheoretiker Vilém Flusser, lange bevor virtuelle Identitäten von jedermann und jederfrau beinahe zum Nulltarif zu kreieren waren. Es hat keinen Sinn mehr, sich zu maskieren. Das haben Pjotr und Tom einfach nicht begriffen. Deshalb haben sie immer noch eine peinliche und -vermutlich - etwas boshafte Freude daran, sich zu verstellen, um - vermeintlich - andere zu enttarnen. Es geht nicht mehr um Sinn, sondern um Sinn-Gebung. Das heißt mit anderen Worten: Gesten der Verschwendung sind gefragt, nicht der Sparsamkeit. Die wunderbarsten Rätsel entstehen nicht durch Geheimhaltung, sondern durch Offenbarungen (im Plural).
Verwandte Beiträge:
(Ver-)Kleidung: Die Innenseite der Maske
(Der Post geht u.a. auf ein Gespräch mit Antje Schrupp zurück. Diesen Text vorbereitend habe ich in ihrem Blog noch einmal nachgelesen, was Luisa Muraro von der italienischen Feministinnengruppe DIOTIMA sagte: "Was Frauen und Männer gemeinsam haben, darf nicht einfach vorausgesetzt werden, denn vor dem Frausein/Mannsein gibt es kein Menschsein. Was wir mit dem anderen Geschlecht gemein haben, wird sich aus eventuellen Übereinkünften ergeben, aus der wechselseitigen Anerkennung der beiden Geschlechter bezüglich kultureller, emotionaler und politischer Fragen. Oder es ergibt sich aus den kulturellen Zwängen, die wir weiterhin bekämpfen werden, im Namen einer freien Interpretation der Geschlechterdifferenz." Aus dieser Perspektive bleibt die ungebrochene Vorspiegelung einer weiblichen Identität durch einen Mann, der keine Frau sein will, eine Anmaßung. Denn sie geschieht aus einer Position heraus, aus der seit Jahrhunderten "die Frau" zur Repräsentanz des Mannes benutzt und ihr auf diese Weise eine eigene Stimme verwehrt wurde. "Madame Bovary - c´ est moi" - diesen Satz Flauberts finde ich anmaßend, ohne selbstverständlich damit ein Urteil über die literarisches Qualität des Romans zu treffen.)
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* Nachtrag: Der Autor des Blogs "Alea Torik" wähnte sich durch diesen Absatz - wenn auch in seiner Selbstwahrnehmung sehr falsch - porträtiert und beschwerte sich per Mail darüber. (Wodurch mir erstmals bekannt wurde, dass es/"er" keine Frau ist. Ich erkläre daher ausdrücklich, dass die Vorlage in der Blogosphäre für die Figur "Anastasia" nicht der Blog "Alea Torik" und dessen Autor war.)
(Der Post geht u.a. auf ein Gespräch mit Antje Schrupp zurück. Diesen Text vorbereitend habe ich in ihrem Blog noch einmal nachgelesen, was Luisa Muraro von der italienischen Feministinnengruppe DIOTIMA sagte: "Was Frauen und Männer gemeinsam haben, darf nicht einfach vorausgesetzt werden, denn vor dem Frausein/Mannsein gibt es kein Menschsein. Was wir mit dem anderen Geschlecht gemein haben, wird sich aus eventuellen Übereinkünften ergeben, aus der wechselseitigen Anerkennung der beiden Geschlechter bezüglich kultureller, emotionaler und politischer Fragen. Oder es ergibt sich aus den kulturellen Zwängen, die wir weiterhin bekämpfen werden, im Namen einer freien Interpretation der Geschlechterdifferenz." Aus dieser Perspektive bleibt die ungebrochene Vorspiegelung einer weiblichen Identität durch einen Mann, der keine Frau sein will, eine Anmaßung. Denn sie geschieht aus einer Position heraus, aus der seit Jahrhunderten "die Frau" zur Repräsentanz des Mannes benutzt und ihr auf diese Weise eine eigene Stimme verwehrt wurde. "Madame Bovary - c´ est moi" - diesen Satz Flauberts finde ich anmaßend, ohne selbstverständlich damit ein Urteil über die literarisches Qualität des Romans zu treffen.)
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* Nachtrag: Der Autor des Blogs "Alea Torik" wähnte sich durch diesen Absatz - wenn auch in seiner Selbstwahrnehmung sehr falsch - porträtiert und beschwerte sich per Mail darüber. (Wodurch mir erstmals bekannt wurde, dass es/"er" keine Frau ist. Ich erkläre daher ausdrücklich, dass die Vorlage in der Blogosphäre für die Figur "Anastasia" nicht der Blog "Alea Torik" und dessen Autor war.)
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