Freitag, 7. Januar 2011

Frau K. im Schneeblutrausch

Der kalte, schneereiche Winter machte Frau K. das Leben schwerer als anderen. Nie ließ sie das Bild los, wie schön das tiefe Rot einer Blutlache sich in dies weiche Weiß einzeichnen könnte. So weiß wie Schnee sein fahles Gesicht auf dem Eis, so rot wie  Lippenstift sein Blut vor dem Mund, so schwarz wie Gothic-Nagellack sein volles Haar um den eingeschlagenen Schädel. Ich muss mich von dieser Besessenheit befreien, dachte sie. Doch in der ganzen zweiten Hälfte des Dezembers verzauberte der Schnee die Stadtlandschaft ins Märchenhafte, glitzerten, wenn die Bahn sich durchs lärmdämpfende Gestöber kämpfte, die weißen Flocken vor den Fensterscheiben und sie konnte die schönen Bilder nicht aus ihrem Kopf verbannen. Ich bin eben  Ästhetin, dachte sie. Sie lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Ach, wie kühl und gut sich das anfühlt, so ruhig, so friedvoll könnte mein Weihnachtsfest werden, fühlte sie, wenn, wenn nur ich endlich zur Tat schritte, statt bloß zu träumen. 

Sie trainierte ihren Bizeps, indem sie täglich ihren eigenen Körper auf die Arme stemmte. Vor dem Spiegel begutachtete sie die Fortschritte: Wenn sie die nackten Oberarme anspannte, zeichneten sich die Muskelstränge schon deutlich ab. Rohe Gewalt, hatte Frau K. entschieden, könnte ihre Sehnsüchte befriedigen. Die Verwendung einer Pumpgun hatte sie verworfen, da die Beschaffung nur zu Bedingungen zu bewerkstelligen war, auf die Frau K. sich  nicht einlassen wollte, neue Abhängigkeiten und Verpflichtungen schaffend, die sie zu vermeiden wünschte. Ihre Befürchtungen mit einem Messer nicht ans Ziel zu gelangen, blieben jedoch bestehen. Doch als sie im Hofeingang neben dem Fahrradständer eine Schaufel lehnen sah, war ihr die neue Idee gekommen. Mit der Schaufel ließ sich der Abstand zum Opfer groß genug halten, um dessen Abwehr zu verhindern. 

Abwehr wusste Frau K., ist jedoch grundsätzlich zu vermeiden. Es spricht nichts dagegen, versicherte sie sich,  ihn von hinten zu erschlagen. Ich habe keinerlei Bedürfnis ihm noch einmal in die Augen zu sehen.  Vor allem will ich in kein Gefecht verwickelt werden. Ein Schlag, daher, muss genügen. Das ist zu trainieren. Frau K. blieb den ganzen Dezember über eifrig bei der Sache. Sie hatte beschlossen, schrittweise vorzugehen und nichts zu überstürzen. Zunächst waren Muskeln zu bilden, dann die rechte Hebelwirkung des Schlagwerkzeugs zu erproben und eine Routine zu entwickeln. Sie gedachte Kürbisse zu verwenden, wiewohl das ihren Schönheitssinn verletzte. Sein oval-klassischer Kopf, den sie so bewunderte hatte, innen wie außen, Hirn und Stirn, glich dem runden Gartengewächs keineswegs, doch mühte sie sich dies aus ihrem Denken zu verbannen. Noch war es nicht so weit, noch galt es bloß die Muskelkraft zu erhöhen. Ihre Fortschritte machten sie stolz. Dennoch quälte sie täglich, wenn sie in der Bahn saß, der Blick aus dem Fenster ins Wunder-Winter-Weiß. Sie war nie ein geduldiger Mensch gewesen und das herrliche Bild, das vor ihren Augen erschien, drängte so heftig nach Realisation. 

Sie stieg aus, überquerte die Fahrbahn und betrat den Parkplatz des OBI-Marktes.


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