Eine dreißigjährige Autorin aus Neuseeland, die in London lebt, besucht die junge Familie eines Journalisten, der sie einmal interviewt hat, für ein Winterwochenende auf dem Land. Sie reist früher ab, als es geplant war, weil sie sich „homesick for my typewriter“ fühlt, wie sie den jungen Eheleuten Anne und Philipp Thirkettle erklärt. Es sind freundliche, gebildete und belesene Leute, die Grace Cleave als Gastgeber willkommen heißen, dennoch weint sie sich in den beiden Nächten in Winchley in den Schlaf. Sie übernachtet im Zimmer des abwesenden Vaters von Anne, der Schafsfarmer in Neuseeland war. Während die scheue Grace sich überfordert fühlt von der Nähe und Wärme, die Philip und Anne anbieten, fliegen ihre Erinnerungen heim auf die neuseeländische Südinsel, wo sie als Tochter eines Eisenbahners aufwuchs.
Janet Frame empfand, was sie in diesem schmalen Band zu erzählen hatte, als so persönlich, dass sie die Veröffentlichung zu ihren Lebzeiten mied. Doch bewahrte sie an getrennten Orten zwei gebundene Exemplare des Romans auf. Pamela Cordon, die dem Janet Frame Literary Trust vorsteht, übernahm die Herausgabe. Das Buch enthüllt keine peinlichen Geheimnisse, Gelüste oder Sehnsüchte der Janet Frame. Aber es stellt das empfindliche Bewusstsein einer alleinstehenden jungen Frau dar, der ihre Phantasien und Erinnerungen ebenso real sind wie die sogenannte Wirklichkeit, in der sich die anderen scheinbar sicher bewegen: „Now journeys were not simpel matters for Grace; nothing is simple if your mind is a fetch-and-carry wanderer from sliced perilous outer world to secret safe inner world...“
Grace entdeckt ihre Identität: „I´m a migratory bird.“ Ihre Fremdheit im kalten London, die ungeschönten Erinnerungen an eine Kindheit „on the rail“, jeder „shift“ des Vaters von einem Eisenbahnstandpunkt zum anderen folgend, ihre Verzweiflung über die Unfähigkeit mit anderen Menschen zu kommunizieren, finden in diesem Bild zusammen. Grace Cleave ist nicht daheim, aber auf dem Flug in jene andere Welt, in der sie lebt, die traumhaft ist und unmenschlich: „Down, dream, down."
In Philip und Annes Büchersammlung findet Grace eine Anthologie neuseeländischer Lyrik, deren Lektüre die Erinnerungen an ihre Kindheit auf der Südinsel lebendig werden lässt. Ein Kind wächst in dieser Eisenbahner-Familie heran, dem die Worte Mysterien sind: „Words were so mysterious, full of pleasure and fear. Mosgiel. Mosgiel. Up Central. Taieri. Waihola. Ao-Tea-Roa. Lottie. Lottie. That was my mother´s name, yet we never called her Lottie, it was only aunts and uncles who were allowed to use her name. (...) The word was strange an frightening; it gave my mother a new distinction which seemed to separate her from us, which implied she didn´t belong to us at all. It made me curious of her and jealous of her, her name was a way of saying NO to us – but weren´t we her babies, hadn´t I been her special baby until Dorry was born?“ Dass eine Mutter ihren Eigenamen einbüßt, wie die Wiedergewinnung dieses Namens eine Verletzung der Familie darstellt und dass manche Frauen nie wieder aus der Mama-Mutter-Großmutter-Oma auftauchen, ist genau beobachtet.
Durch die übersensible Wahrnehmung, in der sich Phantasie und Wirklichkeit vermischen, erschafft sich die Schreibende eine singuläre Weltsicht, die eindeutig weiblich ist. Ob es die Erinnerungen an die Mutter sind, die dem Vater nicht zu widersprechen wagte und ihr eigenes Leben dem seinen vollständig unterordnete oder die Darstellung der liebevollen Beziehung der Thirkettles – Grace Cleave erkennt mit dem scharfen Blick der Außenseiterin, wie sehr die Frauenleben geprägt sind von dem Wunsch, dem Mann zu gefallen und es ihm recht und gut zu machen, wie wenig Möglichkeit sich eröffnet in diesen Haushaltsräumen eine eigene Identität zu entwickeln. Grace bewundert Annes Fähigkeit, die Hausarbeiten fast unsichtbar zu erledigen: „An artist could learn from her, Grace thought. She knows how to make, to give, without the qualifying - It´s mine.“ Die namenlose Schöpfung aber, die Grace anstreben mag, ist gerade kein Produktionsprinzip männlicher Autorschaft, das jedes Werk-Stück stolz mit dem eigenen Namenszug versieht. „Let all the world be calm, Grace thought, Let Philip not murder Anne. This my plate, my cheese on toast, this my coffee in the yellow cup, and- oh my god! – Philip and Anne will kill each other. You see, they are my mother and father.“
Jede Seite dieses Buches erzeugt Bilderwelten und Gedankeflüge. In der Leserin erstehen durch diese dichten Wortgefüge eigene Erinnerungen, Träume, Ängste, Sehnsüchte, Hoffnungen: ein übervolles schmales Buch, das man schnell durchlesen kann und das doch lange braucht, um gelesen zu sein.
„Yet here, in the attic, Grace decided, little effort or encouragement would be needed to draw aside the curtains of the secret window, to smash the glass, enter the View; fearful, hopeful, lonely; disciplining one´s breath to meet the demands of the new element; facing again and again the mermaiden´s conflict – to go or stay; to return through the window whose one side is a mirror, or inhabit the blood-cave and slowly change from one who gazed at the view to one who is a part or whole of the view itself; and from there (for creation is movement) when all the mirror is a distorted image of oneself, bobbing in the dark waves with stripes of light like silver and gold bars imprisoning one´s face and body, to pass beyond the view, beyond oneself to – where?"
Janet Frame: Dem neuen Sommer entgegen, € 19,95
Eine kontroverse Diskussion über das Buch im SF-Literaturclub, auch über den Begriff Autor/ Autorin und einer "weiblichen" oder "fraulichen" Literatur und Literaturgeschichte. Der mir am besten gefallene Satz kam von Stefan Zweifel:
AntwortenLöschen"Wir wollen doch alle Vögel sein..."
http://www.videoportal.sf.tv/video?id=1bccef9b-8867-499a-8c73-98586da8e7d1
Vielen Dank für diesen Link. Allerdings hat mich an dieser Diskussion sehr gestört, dass Ich-Erzählerin Grace Cleave und Autorin Frame gleichgesetzt werden. Wieder mal wurde diskutiert, als handele es sich hier um den unmittelbaren Ausdruck einer weiblichen Psyche.
AntwortenLöschenTatsächlich halte ich meinen Ansatz, mit dem ich versuche den Text zu lesen und zu verstehen (ganz ohne die Hybris ich könne dadurch auch die Autorin verstehen) ganz unbescheiden für den besseren, angemesseneren, richtigeren.
Sie haben sicher recht, dass man bei einem fiktiven Text den Autor nie mit dem(r) Ich-Erzähler(in) gleichsetzen sollte. Ich habe das Buch auch nicht gelesen und kann also nicht wirklich sachkundig Stellung nehmen. (Wie schön man doch merkt, dass jetzt ein "Aber" kommen müsste).
AntwortenLöschenDie Kongruenz Janet Frame / Grace Cleave muss dennoch sehr groß sein. Neuseeland als Heimat, die Mutter hieß auch Lottie usw. Was mir an der obigen Diskussion am Schluß so gut gefallen hat, war die von Herrn Zweifel postulierte Aufhebung der geschlechtsspezifischen Begriffe Autor/Autorin zugunsten einer über der ständig zwischen weiblicher und männlicher Schreibweise streng unterscheidenden Literaturbetrachtung. Es gipfelte in der schon oben erwähnten, mich an ein Gedicht von Bolaño erinnernden Aussage, dass es eine Sensibilität des Schreibens und der Autorschaft gäbe, die sich nicht auf das jeweilige Geschlecht begrenzen liesse. Die Metapher des Menschen als Vogel, der fliegt und Freiheit sucht, auch schreibend, gilt für alle Menschen, egal welchen Geschlechts.
"Dass es eine Sensibilität des Schreibens" (die "Autorschaft" lasse ich bewusst weg, weil ich das "Fass" jetzt nicht aufmachen möchte) gibt jenseits der Geschlechtlichkeit, glaube ich auch. Dennoch möchte ich nicht darauf verzichten, ja ich kann es auch nicht, wahrzunehmen, was eine weibliche Perspektive in einem Text ist. Mir liegt viel daran, die Differenz wahrzunehmen, ohne sie zu werten. Ich lese nicht als Neutrum, weder kann noch will ich das. Und je älter ich werde, desto wichtiger werden für mich die Stimmen anderer Frauen. Anders ausgedrückt: Meine Sehnsucht nach Harmonie der Geschlechter hat abgenommen, mein Bewusstsein von der Differenz zugenommen. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass mir Männer und Männlichkeit (nicht im Speziellen, aber im Allgemeinen) sehr viel unwichtiger geworden sind als Maßstab.
AntwortenLöschenEs gibt, glaube ich, meistens in fiktionalen Texten eine "Kongruenz" zwischen den Figuren und dem Autor/der Autorin, manchmal offensichtlicher, manchmal weniger offensichtlich. Aber ich würde mich immer dagegen verwahren, dass jemand - wie es in der Sendung geschah - Aussagen über meine Psyche treffen möchte, der meine Texte liest. Für mich ist Janet Frame eine Stimme, kein Mensch. Ich werde sie nie kennen. Sie ist nicht Grace Cleave. Über Grace Cleave, wie der Text sie entwirft, kann ich etwas sagen. Über Janet Frame nicht mehr als die Fakten, die sie preisgab. Ich lese viele Biographien. Aber ich finde es immer anmaßend zu glauben, man (er-)kenne eine Autorin, einen Songwriter oder eine Malerin über deren Werk. Es ist dies, glaube ich, sogar ein Thema dieses Romans: Grace weiß, dass sich die Menschen, denen sie begegnet ein Bild gemacht haben von der Autorin, deren Bücher sie gelesen haben - und sie weiß, dass sie diesem Bild nicht entspricht. Sie kann dies Auseinanderfallen von Selbst- und Fremdwahrnehmung (das in abgeschwächter Form wohl jede/r kennt) nicht überspielen. Darin liegt ein Teil der Mitteilungs- und Ausdrucksschwierigkeiten, um die es auch geht.