Samstag, 23. Juli 2011

Reisejournal Rom (15) NACH-LESE

Wir sind gelandet. In einem kalten und verregneten Deutschland.

Als das Kohlekraftwerk mit dem riesigen Rundlager ins Blickfeld rückte, sollten Heimatgefühle aufkommen. Doch sie blieben – bei mir - aus. Das ist wohl der tiefste Riss, der durch diese Familie geht. Mich zieht es nie „nach Hause“, nicht dorthin, an diesen Ort.  Das wird durchaus, ich weiß das und verstehe es auch, als kränkend empfunden. Wie soll ich es erklären? Ich glaube an die Magie von Orten. Manche sprechen sofort zu einem.  Manche beleidigen auf der Stelle. Manche geben einem das Gefühl, willkommen zu sein. Einige, wenige umfangen einen, so dass man sich angenommen fühlt: daheim. Es gibt dafür keine rationalisierbare Erklärung, zumindest finde ich keine. London, schrieb ich vor über einem Jahr, könnte ein solcher Ort für mich werden. Im Konjunktiv, allerdings. Von Rom weiß ich nun, dass es kein solcher Ort für mich werden kann. Rom ist großartig. Doch ich werde dort nie „hingehören“, vielleicht – mit mehr Sprachkenntnissen – ein verständiger und zugewandter Gast sein. Nur an drei Orten aber habe ich bisher deutlich und grundlos gespürt: Hier bist du richtig. Ich wüsste nicht, was sie gemeinsam haben: Chicago, Lewes (nördlich von Brighton) und Siena.

Ich blättere durch mein kleines Notizbuch, das ich in Rom immer bei mir führte, und ich sehe, wie viel ich weggelassen, verfremdet, entstellt habe. Zwar schreibe ich nicht kunstvoll an den Einträgen, die ich so schnell ins Netz stelle wie die Reiseberichte. Dennoch sind die Eindrücke, wie sie dann zu einem Post werden, gefiltert, einer Zensur unterworfen, die weniger der Verschleierung oder Bewahrung von Geheimnissen dient, als der „story“, einem (folgerichtigen?) Gang der Reiseerzählung. Ich habe anderswo schon geschrieben, wie  ich mich mit dem Zwang zur Chronologie des geschriebenen Wortes herumschlage – ich erlebe nicht Geschichten, sondern einverleibe mir kannibalisch und rücksichtslos, was sich bietet, eine Allesfresserin, die keine Unterschiede macht, auch Magenverstimmungen in Kauf nimmt in ihrer Gier.

Wir fuhren aus Rom hinaus, die gleiche Strecke, die wir hineingefahren waren. An einer Ampel beobachtete ich einen Jungen mit asiatischen Züge in einer Boxershorts und einem grünen Fußballshirt, wie er an die Scheiben der Autos klopfte, die in der umgekehrten Richtung warteten. Erst allmählich begriff ich, was er tat: betteln. Er bewegte sich eigentümlich steif in der Hüfte, was ihm einen fast hinkenden Gang gab. Eine Schirmmütze hatte er tief ins Gesicht geschoben. Als er sich umdrehte, erschrak ich seiner müden Augen wegen. Es war gar keine Junge, sondern ein alter Mann, der zwischen den Autos umherhüpfte. Dann schob sich an der Kreuzung ein Leichenwagen ins Sichtfeld, der Sarg über und über mit Blumen geschmückt. Ich dachte an das Hochzeitspaar in der Santa Maria  in Aracoeli auf dem Kapitol: Der überwältigende Duft der Lilien während das Brautpaar sich beinahe eine Viertelstunde dem Fotografieren durch alle Verwandten stellen musste. Als meine Augen wieder nach ihm suchten, war der bettelnde Alte verschwunden.

Auf der gegenüberliegenden  Seite in meinem Notizbuch lese ich den Eintrag:  „We are now in a full cultural Hiroshima.“ Wo habe ich das abgeschrieben? Ich blättere weiter: In der Santa Maria degli Angeli, wie es scheint, die von Michelangelo in die Thermen am Termini gebaut wurde. Dort in der Kirche fand eine Ausstellung zu Ehren von Galileo Galilei statt. Zusammengestellt hatte sie, wie ich notiert habe, die „World Federation of Scientists“ von Antonino Zichichi.

Zwei Seiten weiter finde ich die rätselhafte Aussage: „In der Mitte ist die heilige Grube.“ Ich weiß nicht mehr, worauf sich das bezieht. Nebenan, schrieb ich, werde ein wohlgenährter Jesus gegeißelt. Oder: „Penetrieren, statt penetriert werden?“ Was meinte die Frau, die ich vor einer Woche war, damit: „Ist die Kleinheit angenehm?“ Weiter. Über die „Heilige Familie auf der Flucht“ von Caravaggio schrieb sie: „Selten so eine innige Maria mit Kind gesehen“.  Dann: „Zuhauf: spähende, niedliche, frivole Amori und Faun, Masken und Blüten.“ Im Palazzo Colonna beeindruckte sie eine Kanonenkugel, die 1849 abgefeuert, noch in der Treppe steckte. "Achtung: unter den goldenen Tischen - gedemütigte Mauren." Sie notierte den Namen eines Malers: Salvatore Rosa und umkreiste ihn mehrfach. Hinter Farnesina setzte sie ein Ausrufezeichen. Santa Cecilia in Trastevere: "Eine bunte Nonnenschar huldigt dem Herrn. Es singt und betet, kein Mann predigt denen vor.“ Die Aufzeichnungen enden mit der kryptischen Frage: "Gehören guter Sex und gutes Essen zusammen?" Darüber könnte man lange philosophieren.


Im Flugzeug las ich in der Süddeutschen Zeitung Christian Nürnbergers Artikel „O Jesus!“  Im Kern geht es darum, dass der Papst sich auf Hühnerzucht und Landwirtschaft konzentrieren soll. Oder so. Miriam Stein beklagt den "Tod der hübschen Sommerklamotten". Ein Kleid habe ich noch am letzten Tag in Rom vor der Vernichtung gerettet. Fünziger Jahre-Stil mit schwingendem Rock und Gürtel um die Taille. Und ein bisschen Limoncello habe ich mir mitgebracht.

Wir sind gelandet. Noch nicht angekommen am kühlen Main.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen