Mittwoch, 7. September 2011

PUNK PYGMALION (14): WEITES LAND

Bélapátfalva
Den ganzen Sommer habe ich nichts über Emmi und Ansgar geschrieben, keine Fortsetzung des „Punk Pygmalion“-Romans meiner Freundin, der sich zwanzig Jahre nach dem abrupten Ende in den 80er Jahren im vergangenen Herbst ganz plötzlich fortzusetzen schien. Es war als wäre meine dreißigjährige Freundschaft mit Emmi an ein Ende gelangt, gleichzeitig mit meinem offensichtlichen Unvermögen, ihrer Liebesgeschichte mit dem „rough guy“ das Happy End zu schreiben, das sie sich wünschte. Als Emmi im Juni bei mir war, war sie so verschlossen, dass ich ihre Abreise nach Südfrankreich geradezu herbeisehnte. Ich war erleichtert, als sie abfuhr. Nachdem ich sie verabschiedet hatte, griff ich mir den Kasten mit den Briefen von Ansgar und schob ihn weit nach hinten in die Unterfächer meines Sekretärs. Etwas war zu Ende gegangen und ich wusste nicht genau, ob es Emmis Liebe zu Ansgar war oder ihre Freundschaft mit mir oder beides. Aber ich fühlte, dass ich Abstand wünschte zu ihr und dieser sonderbaren Leidenschaft.

Dabei herrschte keine Funkstille zwischen Emmi und mir im Juli und August. Sie schrieb mir Postkarten aus der Camarque, die so nichtssagend waren, wie jene, die sie im Frühjahr 1984 aus Frankreich an Ansgar nach Kopenhagen geschickt hatte. Ich glaubte, wenn ich diese Karten aus dem Briefkasten fischte, zu verstehen, wie Ansgar sich damals gefühlt haben musste. Sie vollzog einen Bruch ohne ihn zu erklären; sie wurde nicht stumm oder suchte Streit, sondern benahm sich distanziert, wie gegenüber einer Tante oder einem netten Arbeitskollegen. Sie ließ einem keinen Raum, die Enttäuschung und den Schmerz darzustellen, denn sie leugnete einfach, dass es je etwas anderes gegeben hatte als diese laue Freundlichkeit.

Ansgar hatte damals mit Aktion reagiert. Er kündigte sein Kommen an, nachdem Emmi ohne Begründung nicht nach Kopenhagen gekommen war, um ihn zu besuchen. Ich weiß, dass sie Auseinandersetzungen mit den Eltern darüber hatte, ob Ansgar bei ihnen im Haus übernachten dürfe. Schließlich wurde ausgemacht, dass er im Keller schlafen könne. Obwohl ich in Frankreich gehofft hatte, die Ansgar-Episode sei vorüber, war ich auch gespannt auf den Punk, der Emmi so im Griff hatte.

Sie lief Hand in Hand mit ihm durch unser Dorf und genoss es offensichtlich, wie über sie beide getuschelt wurde. Einer wie Ansgar war in den 80er Jahren in der Provinz noch eine echte Sensation. Er trug Hosen, die er dicht über dem Knie fransig abgeschnitten hatte, globige Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln, einen breiten Nietengürtel um die Hüfte und ein zerrissenes T-Shirt, das überall den Blick auf seinen muskulösen Oberkörper freigab. Seine Oberarme waren dick wie Baumstämme, seine Hände riesige Pranken, die aber auch große Geschicklichkeit und Zartheit zeigten, wenn sie Emmi um die Taille griffen oder durchs kurze schwarze Haar fuhren. Am auffälligsten war seine grün gefärbte Irokesenbürste. Ansgar wirkte auf mich raumgreifend, grobschlächtig und schön. Er war ein Mann, während wir nur Jungs kannten; ein Mann aber, der sein „eigenes Ding durchzog“, wie er es nannte. Er mache Skulpturen aus Stein, erzählte er mir, als ich Emmi an einem Abend besuchte, und er zeigte mir, wie er den Meißel ansetzte. Wider Willen mochte ich ihn. Aber ich fand ich ihn auch beunruhigend. Seine Hände griffen mitten im Gespräch nach Emmi, ohne das er seinen Blick mitschickte. Er langte immer wieder nach ihren Armen, ihren Schenkeln, ihrem Nacken. Sie saß still und schaute kaum zu ihm hin. Doch ihr Körper reagierte auf seine Berührungen mit einem Zittern; sie drückte sich gegen seine Hände und schmiegte sich ein. Es war nicht angenehm, mit den beiden in einem engen Zimmer zu sein und ich ging früh.

Am anderen Abend fuhren wir zusammen ins „Up-and-Down“, eine Alternativ-Disco im Nachbarort, die ein Bauer auf einem Acker in einer Scheune errichtet hatte, um seine Nebenerwerbslandwirtschaft rentabler zu machen. Das „Up-and-Down“ war der Sammelpunkt der alternativen Szene in unserer Gegend. Aber selbst hier war ein Typ wie Ansgar in jenen Jahren ein Unikum. Es gefiel ihm, er tanzte wild Pogo und Emmi, die sonst sehr zurückhaltend war, ließ sich voll darauf ein. Ich stand am Rand und fühlte mich sonderbar ausgeschlossen und glücklich zugleich. Es war ein Moment, in dem ich dachte, es könnte alles voran gehen, Emmi und ich, wir hätten alles vor uns und ich könnte mich auch befreien und einfach loslegen; mit Emmi und Ansgar, vielleicht, dachte ich. 


Ich war sehr verliebt zu der Zeit in einen Kerl namens Roland, den ich cool und lässig fand, weil er auf die Schule schiss und nur gelegentlich hinkam, aber dann die Lehrer in endlose Diskussionen verwickelte, denen sie nicht gewachsen waren. Dass ich mit einem wie Ansgar da war, könnte mein Ansehen bei ihm heben, bildete ich mir ein. Als sich daher die Gelegenheit bot, mich am Rande der Tanzfläche neben ihn zu stellen und mit der Bierflasche unter seiner Nase herumzufuchteln, ergriff ich sie. Er zeigt sich an diesem Abend außergewöhnlich interessiert an meiner Unwesentlichkeit und strich mir sogar vielversprechend über die Arme. Es endete in einem Zungenkuss, den ich doch erschreckend fand und zum Anlass nahm, herumzustottern, dass ich  jetzt gehen müsse.

Hinter der Scheune suchte ich nach Emmi und Ansgar, die zwischendurch verschwunden waren. Im Dunkeln hörte ich stoßweises Atmen, dachte mir aber nichts dabei, weil ich gedanklich noch meine Chancen bei Roland abwog, nachdem ich mich so dumm benommen hatte. Als ich um den Heuhaufen trat, leuchtete mir Emmis blaßweißer Hintern im Mondschein entgegen. Ansgars Hand hatte sich in ihrem Nacken verkrallt. Er nahm sie von hinten. Ich blieb im Schatten stehen, doch hatte ich wohl irgendein Geräusch gemacht. Emmi wandte den Kopf und sah mich an. Dann senkte sie ihn wieder auf die Brust. Ich zog mich zurück, hüpfte vor dem Eingang zum „Up-and-Down“ herum, war beschämt, verwirrt, stinkig.

Wir fuhren im Auto von Emmis Vater zurück, Ansgar am Steuer, Emmi neben ihm, ich auf dem Rücksitz. Er legte die Pranke auf ihr Bein und fuhr mit dem Daumen über die Außenseite ihres Schenkels. Sie legte ihren Kopf zurück an die Lehne und seufzte laut. Ich drückte mich fester in die Rückbank und wandte mein Gesicht zum Seitenfenster. Am nächsten Tag reiste Ansgar ab. Emmi und ich sprachen nie über diesen Abend. Am nächsten Wochenende im „Up-and-Down“ übersah Roland mich.

In dem Pappkarton, den mir Emmi überlassen hat, findet sich aus diesem Sommer eine Karte von Ansgar, die er aus Ungarn schrieb. Dorthin fuhr er nach dem Besuch bei uns.


                                                       Juli 1984


Liebe Emmi,

ich bin schon wieder raus aus Budapest, das schön war, aber auch voll und laut und nun genieße ich das Land. Es ist genau das, was ich mir erhofft hatte: Weit, flach, still, bösartig. Ich ziehe von Ort zu Ort mit meinem Rucksack, die Leute starren mich an wie einen Alien. Morgen will ich draußen unter den Bäumen übernachten. Ich sehne mich danach, dich in meinen Schlafsack zu stopfen und es dir ganz eng zu machen.

Karlig Hilsen

Ansgar

Ich habe überlegt, ob ich Ansgar schreiben soll, um herauszufinden, wie es um ihn und Emmi steht. Sie erwähnt ihn mit keinem Wort in den Postkarten aus Frankreich. Einmal hat sie angerufen. Bevor sie wieder auflegen konnte, habe ich schnell gefragt: „Was ist mit Ansgar?“ „Ich werde ihn nie loslassen.“, hat sie gesagt. Es klang drohend. Dann legte sie auf.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen