Montag, 30. Januar 2012

FEEDBACK-LOOP. Die Poetik-Vorlesungen von Thomas Meinecke


Ein Beitrag von Morel

Bericht. Das Setting ist einfach. Es sind fünf Vorlesungen vorgesehen. In jeder Vorlesung steht, angefangen mit Tomboy, einer der Romane von Thomas Meinecke im Mittelpunkt. Beim zweiten Mal also Hellblau, danach Musik. Es folgen noch Jungfrau und Lookalikes. Vor der Vorlesung wird eine Langspielplatte aufgelegt, eine Kamera filmt den Plattenteller von oben. Dann ist ein Lied zu hören, das im Zusammenhang mit dem in der Folge zentralen Roman steht. Beim ersten Mal False Start von Sleater Kinney. Danach geht Thomas Meinecke ans Rednerpult, beugt sich ein wenig nach vorne und beginnt vorzulesen. Hinter ihm auf einem Whiteboard in Schlagworten und Slogans die Themen des Romans. Vorgelesen werden Rezensionen über Meinecke-Bücher, wissenschaftliche Arbeiten über und Interviews mit Meinecke. Am Ende der Vorlesung ein zweites Lied.

Institution.  Die Frankfurter Poetikvorlesungen sind eine Institution. Sprichwörtlich geworden ist ein Zitat aus Ingeborg Bachmanns Auftritt: "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." In der Einführung zur ersten Vorlesung hat die für die Veranstaltung verantwortliche Professorin vom "Glanz der Poetikdozentur" gesprochen. Danach der Riot-Grrrl-Punk und eine kalte Dusche. Der eingeladene Poet spricht nicht über sich, sein Handwerk und seine Inspirationen, sondern liest vor, was andere über ihn geschrieben haben. Sylvia Bovenschen. Jochen Bonz. Helmut Böttiger. Elmar Krekeler. Thomas Gross.  Manfred Hermes. Und Rainald Goetz in einem sarkastischen Buchmessen-Stakkato aus Abfall für alle. Nach einer halben Stunde brechen die ersten Grauschöpfe auf. Es folgen noch, im Hardcore-Poststruktualisten-Sound der späten Neunziger, einige Abschnitte aus wissenschaftlichen Arbeiten. Freiburger Frauenstudien. Weimarer Beiträge. Der Glanz dieser Vorlesung ist der eines Spiegels: die Entstehung eines Autors im Diskurs von Literaturbetrieb und -wissenschaft.

Reaktion. Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau: "Aber wie soll es jetzt weitergehen? Eigentlich muss er unbedingt so weitermachen und das Risiko auf sich nehmen, sein Publikum damit in den Wahnsinn zu treiben." Florian Balke in der Rhein-Main-Zeitung: "Was Meinecke zu verweigern scheint, eine Definition seiner selbst, übernimmt an seiner statt der Hörer." Christoph Schröder in der taz: "Eine riesige akademische Spielwiese." Der ausführlichste und interessanteste Beitrag von Jesko Bender in Jungle World: "Thomas Meinecke hat das Kunststück fertig gebracht, zu polarisieren, ohne auch nur ein einziges »eigenes« Statement zu formulieren. Wie geht das?"  Die Zuhörerinnen und Zuhörer reagieren auf ihre Weise. Nach der ersten Vorlesung, wo noch der eine oder die andere auf der Treppe sitzen musste, leeren sich die Reihen in der Folge. Wer für das zweite Mal noch auf einen echten Start (nach dem falschen der ersten Lesung) gehofft hatte, wurde enttäuscht. Rezensionen zu Musik, ein Abschnitt aus einem Klaus-Theweleit-Buch, in dem dieser sich über Männer, die als Frauen posieren, mokiert. Ein Interview mit dem Autoren einer Magisterarbeit. Die Interviews werden allerdings mit mehr Emphase gelesen. Wer nicht mehr auf das lyrische Ich des Poetik-Dozenten wartet, beginnt auf die Zwischentöne zu hören. Beim dritten Mal ist klar, dass Jesko Bender Unrecht hat: es geht eben nicht um Provokation, sondern tatsächlich um Verbindungslinien, die sich durch Texte ziehen. Von einem Text zum nächsten. Und nicht nur durch Texte. Inzwischen kommt nur noch ein harter Kern zu den Vorlesungen. Ein paar Reihen vor mir macht sich der Radiomoderator und Autor Klaus Walter eifrig Notizen. Als in einem Text eine Frankfurter Diskothek genannt wird, freut sich Thomas Meinecke, ihren ehemaligen Betreiber Ralf Rainer Rygulla begrüßen zu können. Der zusammen mit Rolf-Dieter Brinkmann als Herausgeber der Undergroundanthologie Acid in die Literaturgeschichte eingegangen ist. In die sich nun auch Thomas Meinecke als Leser einschreiben möchte.
Tage des Lesens. "Alle tanzen und niemand kennt die Platten", hieß es am letzten Dienstag. Wäre man nicht immer so auf der Suche nach dem Sinn und ein wenig lockerer, könnte auch die Literatur so etwas werden wie die in diesem Zitat gemeinte Technomusik. Alle lesen und niemand kennt die Autoren. In einem ewigen Feedback-Loop.

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