Samstag, 8. September 2012

31 Fragen an Bücherleser:innen (10): SCHULLEKTÜRE - INITIATION oder ÖDNIS


Fortsetzung der Reihe: 31 Fragen an Bücherleser:innen, die jeweils Morel, BenHurRum und ich beantworten.

In dieser Folge geht es um Erinnerungen an die Schullektüre. Das löste längere Gespräche aus. Morel und BenHuRum haben negative Schulerfahrungen verdrängt. „Da war was, was mich nervte, aber ich weiß nicht mehr was.“ „Eigentlich fand ich fast alles ganz gut, was wir gelesen haben. Ich war da nicht so wählerisch.“ „Und wenn, dann lag es nicht an dem Buch, sondern an der Lehrerin.“ „Oder dem Lehrer.“ „Der....der Dingens...der konnte enorm öden mit den Satz-für-Satz-Interpretationen.“ Ich habe meinen Deutsch-Unterricht dagegen – mit einer einzigen Ausnahme (s.u.)  -  als ziemlich langweilig in Erinnerung. So gut wie nichts, was wir dort gelesen haben, hat mich berührt, kaum etwas (außer „Faust“) habe ich später jemals wieder gelesen. Ich wollte Chemie studieren. Das „Gelaber“ im Deutsch-Grundkurs fand ich nervig, aber es war leicht, Punkte ohne Aufwand abzustauben: Halt ein bisschen mitlabern. Dass sich meine Pläne so sehr änderten im letzten Schuljahr hatte verschiedene Gründe, manche hatten mit der Clique zu tun, der auch BenHuRUm angehörte, in der viel über Kunst, Literatur, Filme, Musik geredet wurde, ausschlaggebend waren aber ein Unfall während meiner praktischen Chemie-Prüfung und vor allem:

20. Das beste Buch, das du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast

Das war: Peter Weiss "Abschied von den Eltern". Dabei fand ich dieses Buch zu Anfang furchtbar, schlimmer noch als die „schüler- und problemorientierten“ Jugendbücher, die wir in der Mittelstufe zur Gefahrenabwehr (Drogen, Kaufhausklau usw.) gelesen hatten. Doch gerade mein Widerstand löste etwas aus. Dabei hatte ich unwahrscheinliches Glück. Denn ich traf auf eine Lehrerin, die diese Abwehr nicht abwehrte, sondern aufgriff und fruchtbar machte. Mit ihr las ich in den folgenden Monaten – privat -  "Die Ästhetik des Widerstands". So fing es an. Von da her, von diesen Gesprächen mit ihr her und dem Nach-Denken über dieses Buch, seine Schreibweise und die Gedanken über Kunst und Klasse, Untergang und Auferstehung, Autorschaft und Widerstand, die es auslöste, nahm mein Interesse für Literatur und Kunst eine Wende. Vorher war ich eine lesesüchtige Autodidaktin gewesen, die sich von A-Z durch die evangelische Gemeindebücherei gefressen hatte. Jetzt wollte ich etwas verstehen. Das verdanke ich ASTRID (die in Wirklichkeit anders heißt), der ich noch viel mehr schulde und die ich nie wiedergesehen habe, nachdem sie unsere Schule verließ, die ich noch zwei weitere Jahre besuchte und in der ich den Deutschunterricht danach wiederum nur als überflüssiges Geschwätz erlebte. (Über ASTRID und dieses Lesen mit  ihr  habe ich einen der ersten Texte zu der Serie "Auto.Logik.Lüge. Libido" geschrieben: hier.)

Der BenHuRum nennt nach längerem Nachdenken einen Klassiker der Schullektüre: Franz Kafkas "Der Prozess". Kafka steht immer noch auf dem Lehrplan, mal „Der Prozess“, mal „Das Urteil“ oder eine Auswahl von kurzen Geschichten. Der Amazing musste „Das Urteil“ lesen und fand es nicht „so schlimm, wie die meisten anderen Sachen“.  Für seine Interpretation des Werkes hat er die beste Deutsch-Note seiner (inzwischen abgeschlossenen) Schullaufbahn bekommen. BenHuRum nennt noch ein weiteres Werk: Siegfried Lenz: Der Mann im Strom. Das hatte ich ganz vergessen. Das haben wir auch gelesen – und tatsächlich: Den „Sound“ von Siegfried Lenz habe ich noch im Ohr. Das war eines der wenigen interessanten Bücher, die wir in der Mittelstufe lasen (Offenbar verdränge ich auch die positiven Erfahrungen.). Ich erinnere mich jetzt daran, dass eine Lehrerin in der Eingangsstufe der Gesamtschule (5. und 6. Klasse) uns vor den Ferien immer eine Erzählung aus: „So zärtlich war Suleyken“ vorlas. Darauf freuten wir uns wirklich. DAS könnte ich doch einmal wiederlesen!

Der Morel erinnert sich an Kleists: Michael Kohlhaas. Überhaupt sei sein Deutschunterricht vor allem in der Oberstufe meist sehr interessant gewesen. „Die Lehrerin war wirklich verrückt.“ Das scheint immer ein pädagogisch wertvoller Ausgangspunkt zu sein. Außerdem ist dem Morel Salingers: Catcher in the Rye nachhaltig in Erinnerung geblieben, das er auch unseren beiden Söhnen mehrfach ans Herz gelegt hat. Die sind dagegen bisher von dem Werk nur mäßig begeistert. Ich muss gestehen, dass ich es wohl gelesen habe, mich aber kaum noch daran erinnern kann.

Die Gegen-Frage gehört natürlich auch dazu:

21. Das blödeste Buch, das du während der Schulzeit als Lektüre gelesen hast

Da fiel dem BenHuRum und dem Morel zunächst mal – wie oben schon erwähnt - gar nichts ein. Ich wusste es gleich: Dürrenmatt: Die Physiker. An meiner Abneigung gegen Literatur, die politische oder philosophische Positionen verhandelt, hat sich seither nichts geändert. Mich ödet das immer noch, wenn die Figuren bloße Funktionsträger von Ideen sind. In den frühen 80er Jahren war es natürlich  kein Problem  zu wissen, was der politisch links orientierte und friedensbewegte Lehrer so hören wollte, wenn „Die Physiker“ diskutiert wurden. Auch das reizte meinen Widerspruchsgeist, jedoch nicht in produktiver Weise, wie es bei „Abschied von den Eltern“ der Fall gewesen war, sondern rein destruktiv: Mal schnell gedanklich und zum Schrecken des Lehrers die Weltvernichtungsmaschine anwerfen. Das war zynisch und pubertär. Heute schäme ich mich dafür. Aber „Die Physiker“ finde ich immer noch langweilig.

Als Kontrastprogramm zu Morels positiver Erinnerung an „Michael Kohlhaas“, hält BenHuRum fest: „Kleists Sprache hat mich genervt.“ Schickt aber gleich hinterher: „Seh ich natürlich heute ganz anders.“ Außerdem habe es da so eine Geschichte gegeben von einer elektrischen Nachtigall und dem chinesischen Kaiser oder so, jedenfalls, die sei auch ganz doof gewesen oder ihm damals so erschienen. Das muss Hans-Christian Andersens "Des Kaisers Nachtigall" gewesen sein. Aber der BenHuRum weiß nicht mehr so genau, was ihn so sehr daran geärgert hat. Dem Morel will einfach nichts aus dem Deutsch-Unterricht einfallen, was „blöd“ gewesen ist. Als „schlimm“ hat er aber die Zeile-für-Zeile-Übersetzung von Dickens „Great Expectations“  im Englisch-Unterricht in Erinnerung, bei der für zweieinhalb Seiten ein Schulhalbjahr draufgegangen sei. „Das lag aber nicht an dem Buch, sondern am Lehrer.“ Wie es eben meistens ist.

***

Was diese Aufzählung auch zeigt: In der Schule, daran hat sich bis heute wenig geändert, wenn man die Listen anschaut, die für die zentralen Abiturprüfungen als Pflichtlektüre herausgegeben werden, werden fast ausschließlich männliche Autoren gelesen. Auch das nervt! Gewaltig!

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