Montag, 7. Mai 2012
Sonntag, 6. Mai 2012
PUNK PYGMALION (31): Endgültig vorbei
Fortsetzung des Brief- und Blogromans: PUNK PYGMALION (Folge 1-30: hier)
(Mit Folge 30 ist der Teil des Romans unter der Überschrift ANSGAR abgeschlossen. Es beginnt nun:)
II. LARS
Er
gleicht seinem Vater wie ein eineiiger Zwilling und hat doch eine ganz andere
Wirkung. Beide haben diesen wuchtigen Oberkörper auf einem eher schmalen
Unterbau, die breiten Schultern, die Schaufelhände, die starke Nasenwurzel und
das drahtige Haar. Aber wo Ansgars Körper permanent untersetzte Kraft und allenfalls mühsam zurückgehaltenen Trieb
ausstrahlte, ist Lars geschmeidig und abwartend. Ansgar war raumgreifend; Lars
positioniert sich. Der Schock der Ähnlichkeit wurde auch abgeschwächt, weil
Lars, als ich ihn am Samstag vor zwei Wochen in Berlin traf, nicht mehr angezogen war, wie ihn die Augenzeugen in Südfrankreich beschrieben
hatten. Er trug eine graue Cargohose, ein weißes T-Shirt, mit ein
paar dekorativen Löchern, und hellblaue Sneaker. Sein Haar war nicht länger schwarz gefärbt, sondern –
wie ich annahm - sein natürliches ausdrucksloses
Dunkelblond.
Wir
hatten uns um zwei am Alex verabredet, weswegen ich gegen zehn in der Mark
losgefahren war, um mir in der kleinen Wohnung in der Erich-Weinert-Straße noch die
vorgeschobenen Interviewfragen zurechtzulegen. Es war der bisher wärmste Tag des
Frühjahrs, ein Hochsommertag im April, und schon in der Straßenbahn, eingeklemmt
zwischen einem dürren Gothic-Pärchen in schwarzen Klamotten mit Nietengürteln,
einer Prenzelberg-Mami mit Bugaboo und einer korpulenten Frau in Jogginghose und überdimensioniertem Albatross-T-Shirt,
verfluchte ich, dass ich die Jacke nicht in der Wohnung gelassen hatte. Ich
fühlte, wie sich Feuchtigkeit unter meinen Armen sammelte und ein Rinnsaal
an meiner linke Flanke hinunter rann. Auf der dunklen Seidenbluse, die ich trug,
würden die Flecken deutlich zu sehen sein. Ich wollte Lars kühl und
kompetent gegenübertreten, als
erfahrene Kulturjournalistin und nicht wie eine aufgeregte Praktikantin. Ich zog
meinen Arm vom Haltegriff weg, stabilisierte meine Position, so dass ich weder
gegen den Luxuskinderwagen, noch gegen die Jogginghose mit der latenten
Gewaltbereitschaft im Gesicht stieß und schaute auf die Uhr. Ich hatte noch
genügend Puffer, deshalb entschied ich, eine Haltestelle eher auszusteigen. Ich
streifte die Jacke ab, hielt die Arme vom Körper weg und hoffte, im warmen Wind würde die Nässe bis zwei Uhr verfliegen. Der fast durchscheinende Stoff der dünnen Bluse trocknete tatsächlich rasch. Ich schnüffelte unter meinen
Armen. Mein Deo war gut; ich stank nicht. Vor dem Park Inn am Alex lief ich wartend auf
und ab. Busladungen mittelalter Berlin-Touristen aus Westdeutschland, das es nun auch
seit zwanzig Jahren nicht mehr gab, wurden vor mir auf den Platz gespuckt.
„Bisschen billig habbe se das gemacht, hier.“ „Vorhin hat mer in de Seidestraße
noch eh wenich was vom alde Oste gesehe.“ „Wolle mer uff´nen Fernsehturm
nuff?“ „Was Se da widder defür verlange werde...“ Da tippte er mir auf die
Schulter. Es war unmöglich, ihn nicht sofort zu erkennen. Das konnte er aber
nicht wissen, glaubte ich, wie ich ihn sofort mit seinem Vater verglich.
Er
gab mir die Hand, deutete sogar eine Verbeugung an, allerdings mit einem kleinen spöttischen Lächeln um den Mund. „Ich freue mich, dass
Sie sich für meine Arbeit interessieren.“ Ein gewandter und höflicher junger Mann, war
mein erster Eindruck, der ganz anders auftrat als sein Vater, wie ich ihn in Erinnerung zu haben glaubte: selbstbewusst,
aber nicht aggressiv. „So ein Atelier wie das könnte ich in keiner anderen
Stadt als in Berlin finden. Das Gebäude wird abgerissen, aber solange es steht,
sind die Etagen an Start ups, Bürogemeinschaften und als Künstlerateliers billig
vermietet. Die meisten teilen sich zu mehreren eines; ich habe eine halbe Etage für mich allein.“ Ich fragte
mich, ob er schon so erfolgreich war mit seinen Skulpturen oder ob er so viel
geerbt hatte, um sich das leisten zu können. Aber mit solchen Fragen wollte ich
nicht einsteigen. Lars hatte sein Atelier auf der 9. Etage einess Plattenbaues
ein paar Straßenzüge vom Alex entfernt. Eine halbe Büroetage, mit drei
kleineren Räumen, einer Teeküche und einem größeren ehemaligen Konferenzraum.
„Ich wohne auch hier.“, sagte er, als er sah, wie mein Blick durch eine
geöffneten Zimmertür auf eine Matratze fiel, auf der sich unordentlich das
Bettzeug türmte. Er schloss die Tür. „Kommen Sie hier entlang.“ In dem größeren
Raum standen einige seiner Papier-Draht-Figuren. Aber in der Mitte war eine
Staffelei aufgebaut. „Ja, ich male jetzt. Vielleicht.“ Er wirkte erstmals
verlegen. Ich wollte um die Staffelei herumgehen, aber er hielt mich am Arm
zurück. „Nehmen Sie doch Platz“, lenkte er mich zu einem Campingtisch mit zwei
Stühlen, der in einer Ecke des Raums aufgebaut war. „Ich kann uns Kaffee
kochen, wenn Sie mögen.“ Er wollte schon in der Teeküche verschwinden, aber ich
rief ihm nach: „Wasser genügt mir.“ Ich konnte keine weiteren Verzögerungen
mehr ertragen.
Er
kam mit einem Wasserglas zurück und setzte sich mir gegenüber. „Was wollen Sie
wissen?“ Ich fingerte meinen Notizblock aus der Tasche. „Erst einmal die
Fakten. Wann Sie geboren sind? Wie Sie zur Kunst kamen?“ Er nickte. „Ich bin im Februar 1983 geboren. In Hamburg. Meine Mutter arbeitet an der Rezeption eines
Hotels, mein Stiefvater ist Hotelmanager.“ „Ihr Stiefvater?“ „Ja, meinen
leiblichen Vater habe ich nicht gekannt.“ „Ich weiß.“, sagte ich. Das konnte ich zugeben, es hatte
ja in dem Begleitblatt zur „Fatherhood“-Ausstellung gestanden. „Kunst spielte
daheim keine Rolle. Aber ich hatte ein Skizzenbuch meines leiblichen Vaters.
Skizzen für Steinskulpturen. Es hat mich immer fasziniert.“ „Weil es von ihrem
Vater war?“ „Bestimmt. Es war das Einzige, was ich von ihm hatte. Aber auch,
weil diese Skizzen so kraftvoll waren und so wild, weil ich sie spüren konnte,
immer schon.“ Er wurde tatsächlich rot. Ich lächelte ihm aufmunternd, wie ich
hoffte, zu. „Das war immer ein Teil von mir. Eine eigene Welt, die ich mir in
diesem Buch, mit diesem Buch schuf. Ich begann hineinzuzeichnen, den Entwürfen
zu antworten.“ „Schon als Junge?“ „Ich weiß nicht mehr genau. Vielleicht mit
zwölf oder dreizehn Jahren. Ich war vorsichtig. Nahm nur den Bleistift, trug
nicht dick auf. Nie zeichnete ich in die Entwürfe des Vaters hinein, hielt
Abstand, radierte oft alles wieder weg; auch das ganz sanft, voller Panik, dass
mir das Papier zerreißen könnte.“ „Haben Sie Ihren Vater vermisst?“ Er zögerte
mit der Antwort. „Er ist ja nicht gegangen. Er war einfach nie
da. Meine Mutter war da, meine Großeltern, später mein Stiefvater. Ich wurde
geliebt, umsorgt, mir fehlte nichts. Ich hatte eher mehr. Ich hatte noch ein
Geheimnis. Die Welt meines Vaters.“ „Sie tragen seinen Namen? Nicht den Ihrer
Mutter?“ „Als Künstlername, sozusagen. Vaters Namen habe ich angenommen, als
ich nach Berlin ging.“ „Warum?“ „Ich dachte, dass ich in seine Fußstapfen treten
werde.“ „War Ihnen die Konzeption von ´Fatherhood´ da schon klar?“ „Im Grunde
ja. Ich wusste, dass ich Vaters Steinskulpturen hauen musste.“ Er merkte, dass
ich mich fragend umsah. „Die Steinsachen habe ich bei einem Steinmetz draußen
in Brandenburg gemacht. Der hat mir auch Lagerraum abgetreten. Hier hoch könnte
ich die kaum schaffen.“ Er lachte ein wenig schief. „Ich wusste auch, dass ich
nicht einfach Vaters Arbeiten nachahmen wollte. Ich wollte auf sie antworten.
Ein Gespräch herstellen.“ Auch wenn er redete, merkte man, wie sehr er seinem
Vater glich und wie sehr er sich von ihm unterschied Dieselbe steile Falte über
der Nasenwurzel, die Anspannung der Halsmuskeln, wenn er etwas betonte. Doch
sein Ton war nicht angriffslustig, sondern erklärend. Er wollte verstanden
werden, nicht behaupten. „Das ist Ihnen ganz wunderbar gelungen.“ „Danke. Es
mag unbescheiden klingen, aber ich weiß, dass diese Ausstellung gut war. Sie
musste gut werden, weil sie das Resultat meines Lebens ist, meiner Suche nach
dem Vater. Als Sie vorhin fragten, ob ich ihn vermisst habe, habe ich das nicht bejaht. Aber ich habe ich mich immer nach ihm gesehnt. Nach der Ähnlichkeit,
die alle erkannt haben, wenn sie mich ansahen. Danach, dass einer mich so
wiedererkennt, wie ich mich in seinen Zeichnungen gefunden hatte.“ „Und nun?“
Die Frage rutschte mir so raus. Er sah mir direkt in die Augen. Das war ein
Blitz zwischen uns, eine plötzliche Verbindung, als treffe uns schmerzhaft ein
elektrischer Schlag. Du, du, sag es mir,
sag es mir, endlich, sag es mir.
Er
stand auf und trat neben die Staffelei. „Das ist eine gute Frage. Darum ging es
die ganze Zeit, nicht wahr?“ Seine Stimme war tiefer geworden,
das Weiche, Verbindliche war verschwunden, er hämmerte jetzt die Worte gegen
mich. „Was soll ich tun, wenn ich verbraten habe, was Vater hinterlassen hat?
Wer bin ich, wenn ich die letzte Erinnerung an ihn verbraucht habe? Ich wollte
ihn hier haben. Er sollte bei mir sein, in mir, durch mich sein. Ich habe das
vollbracht. Und dann kam sie. Die ihn geliebt hatte, und zeigte mir, wie ich
ganz er werden könnte.“ Seine Hände streckten sich nach mir aus. „Kommen Sie
her.“ Wie unter Zwang trat ich näher an ihn heran. Er zog mich an sich, dreht mich
herum, mit dem Gesicht zur Staffelei. „Das ist sie. Die Frau, die mich in
meinen Vater verwandelte. Das war die Metamorphose, die ich durchlaufen musste,
um mich zu befreien.“ Seine Hände drückten auf meine Schultern. Pranken. Die Pranken des „rough guys“. Da
lag Emmi vor mir. Nackt auf einem Felsen, ihr Schoß die Wunde eines
Steinblocks, wie ihn Ansgar gezeichnet und Lars gehauen hatte. Aufgerissen. Ein
Schlund, tiefer als man schauen kann. Ihre Augen kaltblau. Das Lächeln einer
Sphinx. Die Haare wie gelbe Schlangen abstehend vom schmalen Gesicht. Leblos und
grausam. Eine bleiche Statue. Ich hatte das schon
länger gewusst, dass sie nicht wiederkehren würde, es aber verleugnet. Sie ist tot und der Mörder steht hinter mir.
„Das warst du.“, flüsterte er ganz dicht an meinem Ohr und schob mich dann mit einem harschen Griff von sich und
der Staffelei fort.
Mit wenigen großen Schritten erreichte er die Tür und hielt sie auf. „Sie müssen jetzt gehen.“ Mit gesenktem Kopf schlich ich an ihm
vorüber. „Gleisbauarbeiten“, flüsterte er, als ich direkt neben ihm stand.
„Lese ich schon eine ganze Weile.“ Wie lange?, dachte
ich. Ich wollte mich noch einmal umdrehen, aber da hatte er die Stahltür schon hinter mir zugeknallt.
Die
Tränen kamen erst unten, nachdem ich wie betäubt mit dem Lift die neun
Stockwerke hinuntergefahren war. Im Schaufenster des C & A am Alex sah ich, dass Wimperntusche und Lidstrich schmuddelige braune Spuren auf meinen Wangen
hinterlassen hatten. Scheiße. Ich war auch völlig verschwitzt. Für den
Nachmittag hatte ich mich mit dem Schriftsteller Alban Nikolai Herbst in seiner
Wohnung verabredet. Ich
hob den linken Arm hoch und schnupperte in meine Achselhöhle. Jetzt roch ich
eklig nach Angst- und Schamschweiß und fühlte mich am ganzen Körper klebrig und schmutzig. Sollte ich die Verabredung mit Herbst absagen? Ich sah auf die Uhr. Wenn
ich die Tram nahm, konnte ich mich noch einmal in der Wohnung in der
Weinert-Straße duschen und zurecht machen, bevor ich aufbrach. An einem
Blumenstand kaufte ich ein paar gefüllte gelbe Tulpen, um sie Herbst
mitzubringen. Das Gespräch mit ihm würde mich ablenken und aufheitern, dachte
ich.
So
war es auch. Es wurde ein schöner Nachmittag und später Abend, wir sprachen
über Literatur und Kindheit, über Musik und Freundschaft. Fast vergaß ich Lars und
Ansgar und Emmi. Vielleicht trank ich ein bisschen mehr als gut war. Herbst behauptete später, wir hätten drei Flaschen Wein geleert. Erst als ich mich,
ein wenig schwankend aus dem Bad torkelnd, ins Bett in der Weinert-Straße legte und mich in die Decke rollte, überfiel mich die Trostlosigkeit wieder, die ich gefühlt hatte, als
Lars die Tür hinter mir zugeschlagen hatte. Es war gut, dass der Alkohol in
meinem Blut zirkulierte, denn sonst hätte ich noch viel länger gebraucht um
mich in den Schlaf zu weinen. „Jetzt ist es endgültig vorbei“, war der Refrain des
Wiegenliedes, das ich mir sang.
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Punk Pygmalion
Samstag, 5. Mai 2012
LANDPARTIE. Ein Präsident wird gewählt
Ein Beitrag von Morel
Paris ist vielleicht eine Messe wert,
aber nur ein kleiner Teil von Frankreich. Und sollte Paris das vergessen, dann
wird es alle fünf
Jahre einmal daran erinnert, wenn ein Präsident gewählt werden soll. Denn die Entscheidung fällt nicht in
Paris, im Millionärs-Ghetto
Neuilly oder den Vororten (mit den niedrigen Wahlbeteiligungen), sondern
zwischen den Wiesen, Feldern und Wäldern des wahren Frankreichs, das eben eine Agrarnation ist
und bleiben möchte.
Dann bricht der politische Tross, die Beamten und Sicherheitsleute, die
PR-Berater und Journalisten, die Kameraleute und Claqueure, und natürlich auch
der Präsident
selbst, auf. Denn nur auf der Landpartie erweist sich die reale Präsenz des
französischen
Politikers als Gott in Frankreich. Bevor der für den Economist
"ziemlich" (rather) gefährliche Monsieur Hollande die Anleihenmärkte in
Turbulenzen stürzen
wird, begeben wir uns mit drei französischen Politikern auf Landpartie.
Monsieur
Lheureux
Der erste ist nur Regierungsrat, aber
er wird vom Bürgermeister
voller Ehrfurcht wie ein absoluter Monarch begrüßt. Und dann
folgt - in Gustave Flauberts Madame Bovary - eine der komischsten Reden der Weltliteratur (während sie
den Phrasen über
das mit "sicherer und kluger Hand" geführte Staatsschiff nur beiläufig zuhört ist Emma
Bovary einem ganz anderen Phrasendrescher ausgesetzt). Aber lauschen wir eine
Weile Monsieur Lheureux, der wie alle französischen Politiker das Landleben
mehr als die Arbeit im Büro liebt: "Hat
nicht jeder von uns schon manchmal über die Bedeutung jenes bescheidenen Tierchens nachgedacht,
das die Zierde unserer Bauernhöfe ist und
uns gleichzeitig ein weiches Kopfkissen, einen saftigen Braten für unseren
Tisch und die Eier schenkt?" Ein Geschenk, das zu versagen, schon
der Majestätsbeleidigung
gleichkäme.
"Ich käme nicht zu
Ende, wenn ich alle die verschiedenen Erzeugnisse lückenlos aufzählen müßte, mit
denen die wohlbebaute Erde wie eine großmütige Mutter ihre Kinder überschüttet. Ich nenne nur den Weinstock, den Baum, der uns den
Apfelwein spendet, und den Raps. Dann haben wir den Käse und den
Flachs. Meine Herren, vergessen wir den Flachs nicht!" Ja,
vergessen wir den Flachs nicht. Böser und komischer als Flaubert waren wenige französische
Schriftsteller. Aber auch diese Rede ist dann einmal vorbei. "Der feierliche Akt war zu Ende. Die
Menge verlief sich...Die Herren schnauzten ihre Knechte an, und die Knechte prügelten das
Vieh, das mit grünen Kränzen um die Hörner in seine Ställe zurücktrottete. Ahnungslose Triumphatoren."
Monsieur
Augustin
Nach den Triumphen ziehen sich die Präsidenten
wieder dahin zurück,
wo sie herkommen. Denn kein französischer Politiker darf in Paris geboren sein, sein
Stammbaum muss in einer bestimmten Region wurzeln, in der er häufig dann
auch seinen Wahlkreis hat (Hollande im Übrigen in der selben Region, in der auch Chiracs Wahlkreis
lag). Dort kann er oder sie dann am Wochenende über den Markt schlendern, Käse
probieren, ein Brot kaufen und mit den Bauern plaudern. Das ist wahrscheinlich
das entscheidende Problem Sarkozys: er hasst das Landleben, er liebt die mondänen Parties
oder was er dafür
hält. Aber es
kommt eh nicht auf vermeintlich wahre Gefühle an, auch nicht bei diesem literarischen Präsidenten,
von Georges Simenon nach dem Vorbild de Gaulles geschaffen, der von seinem Landhaus
aus immer noch die Strippen zieht: "Er
war nicht bibliophil und hatte nie ein Buch seines Einbands oder seiner
Seltenheit wegen gekauft. Er hatte sich vor jeder Leidenschaft, jeder Sucht,
jedem 'hobby', wie die Engländer sagen, in acht genommen, zeigte kein Interesse am
Angeln oder an der Jagd oder an irgendeinem anderen Sport, auch nicht am Meer
oder am Gebirge, am Roman oder an der Malerei oder am Theater, und all dies
nur...um seine ganze verfügbare Kraft seiner staatsmännischen Aufgabe zu widmen." Der ideale
Politiker, er liebt nichts und niemanden. So wird er schon zu Lebzeiten zu der
Statue, als die ihn Simenon auf der ersten Seite des Romans Der Präsident vorstellt: "Seine
Haut wurde von Jahr zu Jahr feiner und glatter. Wegen weißer Flecken sah
sie aus wie Marmor."
Monsieur
Sarkozy
Einige Jahrzehnte später hat die
erfolgreiche Dramatikerin Yasmina Reza einen gar nicht marmorhaften Präsidentschaftskandidaten
auf seinen Landpartien begleitet. Ihr Buch Frühmorgens abends oder nachts ist eine gelungene literarische Reportage, die sich
vielleicht gerade jetzt zu lesen
lohnt, nachdem ihr Protagonist vor dem Scheitern steht. Der Ton in Rezas
Aufzeichnungen ist anders als bei Flaubert oder Simenon, wie schon dieser
Mitschnitt aus der Bretagne zeigt: "Der
1. Mai. Was soll denn der Scheiß, in einer düsteren Leitstelle ein Radarbild anzuglotzen? Habt ihr euch
mit der Wettervorhersage beschäftigt? Wer hat denn diese hirnamputierte Idee gehabt?...Die
Bretonen sind mir schnurz. Ich soll da zwischen zehn Idioten rumstehen und auf
eine Karte glotzen! Eine halbe Stunde, um zur Leitstelle zu kommen, und eine
weitere halbe Stunde bis zum Alzheimer-Zentrum! An den letzten Wahlkampftagen
in einem Saal eine Karte anglotzen!...Eine immense Wandkarte vom Departement
Finistère. Die Worte Helikopter, Briten, Ehrenamt, Guernsey
umschwirren sein gravitätisches Gesicht. Hinter den Scheiben die Iroise-See, der
Regen, der tiefhängende Himmel."
Ach, Frankreich, wir werden dich
vermissen.
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MOREL
Der schlechteste Roman, den ich kenne
Mit ihren dauernden unnötigen Wiederholungen, abgedroschenen Klischees und sentimentalen Übertreibungen ist die Wirklichkeit der schlechteste Roman, den ich kenne.
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Freilos
Freitag, 4. Mai 2012
Ein PISSchen Spaß muss sein (Die erroristische Bewegung)
§ 5 des erroristischen Manifests konnte durch den mannhaften (!) Einsatz des Guidonauten (Spritz! Blubb! Klick! Fuck!) aus den Händen der GSG 10 befreit werden. Hier ist er:
§ 5 KEINE REVOLUTION OHNE BADEWANNE!
(+ Schaumbad mit Granatapfelsamenöl für jede/n!)
§ 5 KEINE REVOLUTION OHNE BADEWANNE!
(+ Schaumbad mit Granatapfelsamenöl für jede/n!)
Keine Sorge, liebe Freund:inn:e:n. Der Guidonaut hat die Verkleidung inzwischen gewechselt! |
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Freilos
Donnerstag, 3. Mai 2012
WEST-ÖSTLICH OHNE DIVAN (9): Digitale Unglücklich-Glückliche
Nicht mehr aufs weiße Blatt
Schreib ich gereimte Verse,
Nicht mehr fass ich in Schrift meine Lieb´
Der Wolke droben, der unsteten
Send ich bewegte Worte zu
Auf deren virtuelle Kraft ich baue
Alles strahlt von keiner Mitte her
Die Erden sind verstreut im All
Kein Schiff kommt aus den Fernen
Kein Liebender betrifft den Boden
Wir zucken weiter auf unseren Lagern
Wie Tiere und sehnen uns nicht fort
Aber nacheinander und ruhen nicht
Unglücklich-glückliche bleiben wir
Unter und zwischen den Masten
Die unsere Chatprotokolle leiten
Weiter als wir rufen können:
„Ich liebte dich, war deine Herberge,
Schmückte deine Spuren aus,
O, Du, Geliebter, so bleibst du?“
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Gedichte,
West-östlich ohne Divan
BARREN WOMAN (Sylvia Plath, 1961)
Empty, I echo to the least footfall,
Museum without statues, grand with pillars, porticoes, rotundas.
In my courtyard a fountain leaps and sinks back into itself,
Nun-hearted and blind to the world. Marble lilies
Exhale their pallor like scent.
I imagine myself with a great public,
Mother of a white Nike and several bald-eyed Apollos.
Instead, the dead injure me with attentions, and nothing can happen.
The moon lays a hand on my forehead,
Blank-faced and mum as a nurse.
Museum without statues, grand with pillars, porticoes, rotundas.
In my courtyard a fountain leaps and sinks back into itself,
Nun-hearted and blind to the world. Marble lilies
Exhale their pallor like scent.
I imagine myself with a great public,
Mother of a white Nike and several bald-eyed Apollos.
Instead, the dead injure me with attentions, and nothing can happen.
The moon lays a hand on my forehead,
Blank-faced and mum as a nurse.
Penzance, Cornwall Juli 2010 |
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Worte des Tages (extra)
Mittwoch, 2. Mai 2012
TAG DER ARBEIT (mit Guido Rohm und Seraphe) "There´s no such thing as a free lunch."
Auf dem Weg in die osthessische Provinz überholte uns auf
der B40, jener Verlängerung der immer noch unvollendeten A66, die die
Katholikenhochburg Fulda fast mit dem Rest der Welt verbindet, eine gelbe Corvette.
Morel behauptete, er habe Rohm am Steuer gesehen, doch ich glaubte ihm nicht.
Guido Rohm, wie Sie wissen, liebe Leser:innen, ist ein von uns geschätzter Krimiautor (Blut ist ein Fluss, Blutschneise, Die Sorgen der Killer), der aber leider, wie viele seiner Kolleg:innen zu übermäßigem Konsum
von bewusstseinserweiternden Drogen neigt, um seine manisch-depressiven Schübe
in den Griff zu bekommen. Der Preis für jedes Werk, das seine Energien
unmittelbar aus dem Leben schöpft, ist hoch, so auch bei Rohm. Sie, liebe Leser:innen, erinnern sich sicher an jenes gescheiterte
Unternehmen, zu dem Rohm uns einst überredet hatte (Stichworte: Deutsche Raucherliga, Casino Melusine) und das nur durch Morels beherztes Eingreifen und meine
bescheiden Lügenkünste ein halbwegs glimpfliches Ende nahm.
Ich hatte also
durchaus gute Gründe, nicht daran zu glauben,
dass Rohm es in der Zwischenzeit zu einer Corvette gebracht haben könnte. „Er
schreibt“, sagte ich, „hast du schon mal von jemandem gehört, der schreibt und
reich wird?“ Morel zählte ein paar US-amerikanische Autoren auf, die mit
geradezu unanständigen Vorschusszahlungen für noch ungeschriebene Romane versehen
werden. „Na gut“, sagte ich, „ aber die halten sich auch an die Grundregeln für
verständliche Texte mit Spannungsbogen, wie sie ihnen in den Creative Writing
Workshops der Universitäten eingetrichtert werden.“ „Origineller Einstieg,
klarer Plot, Identifikationsangebot.“ Morel begann zu zweifeln. Vielleicht hatte
er sich doch getäuscht. „Oder das war die Corvette von Guidos neuem Verleger.“
Morels Gesicht wurde zum Fragezeichen. „Ich hab da so Gerüchte gehört.“ Mehr
wollte ich nicht sagen, obwohl Morel nachbohrte. Es waren tatsächlich nur
Gerüchte und die Hälfte von dem, was Leute in Chats auf Facebook behaupten, ist genau
so glaubwürdig wie das, was in der Provinz im Eingangsbereich von Schlecker-Märkten erzählte
wurde, bevor sie alle schlossen.
Tatsächlich parkte die Corvette vor Rohms Wohnturm und Morel
klemmte unseren verbeulten Skoda, den wir gleich 1992 als Solidaritätsgeste an
die tschechische Heimat gekauft hatten, dahinter. Nicht nur Rohms
Mobilitätsmuster hatte sich offensichtlich verändert, auch der Wohnturm
strahlte sonnengelb im Maienglanz, frisch getüncht und ausgestattet mit einer
aufwendigen Eichenholzschnitzerei des Rohmschen Familienwappens über dem
Eingangstor. Vom First wehte eine Fahne, die auf gelbem Grund ein tiefrotes
Herz zeigte, aus dem drei Pfeilspitzen nach Süden, Westen, Osten stießen, von
denen wohlgeformte Blutstropfen herabhingen. Ich blieb sitzen und atmete ein paar Mal tief durch. „Wollen wir wirklich?“, fragte Morel. Es ging ihm offenbar ähnlich.
„Das sind unsere Freunde. So oder so.“ Ich dachte an Seraphe. Wir mussten uns
der Situation stellen und sei es nur um ihretwillen. „Er ist offenbar doch zu
Geld gekommen“, konnte sich Morel eine überflüssige Bemerkung nicht
verkneifen, bevor auch er ausstieg.
Wir mussten nicht klingeln. Seraphe erwartete uns schon
hinter dem noch ganz frisch nach Holzschutzmittel riechenden Eingangstor, das
ebenfalls eine Neuanschaffung war, oben und unten beschlagen mit schwarzen Eisengeflechten, Meisterwerken osthessischer Schmiedekunst. „Er ist oben. Lasst euch bitte nichts anmerken.“
Jetzt sah wahrscheinlich ich wie ein einziges Fragezeichen aus der Bluse,
gerade so wie vorhin noch Morel unter seinem kecken Hütchen. „Wir haben einen
Vertrag. Sensationell. Ein Vorschuss...“ Seraphe flüsterte mir die Summe hinter
vorgehaltener Hand zu, immer wieder über die Schulter spähend, dass wir auch
von keinen neugierigen Nachbarohr belauscht wurden. Dreißig Meter von uns
entfernt hinterm Gartenzaun warf ein Bierschmerbauch im Unterhemd seinen Grill
an. Die leisen Worte Seraphes jedoch konnte er unmöglich hören. Ich dachte, ich
hätte mich verhört. Doch Seraphe nickte in meinen ungläubigen Blick. „Kommt
hoch.“ Wir klettern die enge Stiege hinauf, die auf die Plattform führte, von der
aus Rohm sein osthessisches Reich überschaut und regiert. Denn so bot er
sich unseren Blicken dar, der ehemalige Krimiautor Guido Rohm: Er thronte,
anders kann man sein Sitzgehabe nicht nennen, auf einem mit purpurnem Samt
ausgeschlagenen schweren Sessel, die schlanken Beine in grünglänzenden
Strumpfhosen steckend (Beachten Sie: Komplementärkontrast!),
darüber ein gelbes Jopperl, auf das dasselbe Wappen gestickt war, wie es unten
über der Tür prangte. Neben seinem Thron lehnte eine AK-47.
Seraphe zupfte mich am Arm: „Ungeladen. Keine Bange. Reine
Attrappe.“ Das beruhigte mich. Rohm breitete derweil die Arme aus und winkte
mit der Hand Morel an sich heran. „Komm an mein Herz, Morel, mein Bester.“,
rief er. „Ich verdanke dir viel.“ Rohm, stellte sich heraus, war durch die
vielen positiven Besprechungen ins Visier eines multinationalen Medienkonzerns
geraten. „Mit Büchern, also schlicht gedruckten Büchern, zwischen zwei
Pappdeckeln, meine ich, geben die sich nicht ab. Die denken in ganz anderen
Maßstäben. Da wird jedes Projekt von Anfang an multimedial geplant: Booklet,
Ebook, Computer-Game für PC und Konsole, Trailer auf youtube, mit Option für
einen 3D-Film.“ „Er musste zu einer Schulung nach Conneticut.“, sagte Seraphe.
Guido kicherte. „Ratet mal, wen ich da getroffen habe?“ „Guttenberg.“, rief ich
vorlaut und hatte natürlich recht. Die Pointe wenigstens hatte ich Rohm verdorben.
Es war der reine Wahnsinn. Rohm kletterte von seinem Thron,
wir wanderten einmal rund um den Rauschenberg, damit er uns die ganze
Geschichte von A-Z und mit allen Details und Namen erzählen konnte, die ich
hier leider nicht wiedergeben kann, weil sie zu viele vertrauliche
Informationen enthält über noch lebende und scheintote Autor:innen,
Politkergattinnen, Redemanuskripte und Lieblingshunde. Rohm jedenfalls ist ein
gemachter Mann. Doch auch in seinem Fall bestätigt sich, was Morels Motto ist:
„There´s no such thing as a free lunch.“ Der Konzern hat Regeln. Autoren müssen
leben, was sie schreiben. (Soweit sich das machen lässt, ohne ihr organisches
Leben unmittelbar zu gefährden.)
„The game is the game.“, wiederholte Rohm mehrere Mal, von Seraphes
Seufzern begleitet. Die Marketingabteilung hat auf der Basis einer
internationalen Studie die Ingredienzen des nächsten multimedialen Events
ermittelt: Eine SciFi-Mischung mit Mittelalteranklängen und
martialisch-nostalgischem Schusswaffengebrauch aus Kalte Kriegs-Zeiten, plus
flotte Autos, versteht sich. Rohm selbst verkörpert eine zentrale Figur des
von ihm geschaffenen Universums. Die spezifischen, durch den Unfall bei einem
Punk-Gen-Garagen-Experiment entstandenen, Superkräfte des Guidonauten
allerdings darf ich Ihnen an dieser Stelle noch nicht verraten.
„Wie diese Scheiß-Strümpfe jucken“, kratzte sich Rohm im Schritt,
während wir das leckere, von Seraphe zubereitete Abendmahl aus Lendchen im
Speckmantel mit Reis genossen. „Und das ist ja
noch nicht mal das Schlimmste. Guckt euch um, guckt mich an. Peinlich. Einfach
peinlich.“ Wir konnten das nicht leugnen, versuchten aber Rohm von den vielen
Vorteilen seiner neuen Lage zu überzeugen. Trotzdem konnten wir nicht
verhindern, dass er am Ende des Mahls in einen Weinkrampf ausbrach. Seraphe
winkte uns mit der Hand zum Abschied, während sie ihn in den Schlaf zu wiegen
suchte.
Nachdenklich blieb Morel drunten einen Moment vor unserem
schäbigen Skoda stehen, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte. Im
Abenddämmer leuchtete die Corvette. Hinter Rohms Wohnturm ging blaßrot
die Sonne unter. Es roch nach frisch gemähtem Gras. „Ich möchte nicht mit ihm
tauschen.“, sagte Morel. Dann fuhren wir heim. Er braucht uns jetzt dachte ich, er braucht jetzt echte Freunde.
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Dienstag, 1. Mai 2012
DER SPIEL-RAUM DES UNGLÄUBIGEN THOMAS (und: Aus einer unklaren Schmach des Bewusstseins)
Thomas
glaubt nur, was er sieht. Doch wer sehen muss, kann nicht glauben. So entstehen
die „Mountains of Disbelief“. Nachdem Frankfurt in Schutt und Asche gelegt war,
baute Werner Neumann sieben Kirchen in die Stadt, die wieder Halt geben
sollten. Solide Fenster, geometrische Betondurchblicke, Festigung und Farbe.
Das ist der Spiel-Raum. Über dem gewellten Dach versteckt sich: MENSCH. Der
Mai ist gekommen. Die Bäume schlagen aus. Die Geschlagenen verziehen sich nach
nebenan ins Hilfezentrum für Wohnsitzlose. Europas Jugend verarmt und Kunst
bildet: Zeige deine Wunde!
In
der Frankfurter Weißfrauen Diakoniekirche wird Thomas Hartmann einen Pavillon
errichten. Der Raum hat eine ruhige Stimme. Die Frage war: „Barocke Fülle
oder Konstruktion?“ Die Antwort ist eindeutig. Unter der Empore vor der Orgel
finden sich Pappsitzkartons für Kirchentagsbesucher. Die Herde kann aufsitzen. „Wenn
der Regen kommt, quillt der Karton auf und wird zu Matsch.“ Es grünt so grün.
Fang dir einen Fisch unter der Karo-Decke. Eine LKW-Ladung Kunstwerkstoff wird
angeliefert werden. Die Spannung steigt. Bis sieben Meter unter die Decke.
Ausstellungseröffnung am 16. Mai 2012
(Abend vor Christi Himmelfahrt) um
19.00 Uhr
Weißfrauen Diakoniekirche, Gutleutstraße/Ecke
Weserstraße,
Frankfurt am Main
__________________________________
Zum
1. Mai:
...
Und wenn mir die Liebe zur Welt
Wird beschieden, ist es nur
Durch heftige und naive sinnliche
Liebe,
so wie ich einst, als wirrer Jüngling,
sie haßte, wenn das Böse des Bürgerlichen
verletzte den Bürger in mir: nun aber,
da – durch dich – geschieden die Welt,
ist nicht der Teil, der die Macht hat,
Objekt nur des Grolls oder fast
mystischer Verachtung?
Doch deine Strenge fehlt mir noch
immer;
Weil ich nicht wähle. Willenlos leb ich
Seit dem verloschenen Nachkrieg: liebe
die Welt,
die ich hasse – in ihrer Misere
verachtend, verloren – aus einer
unklaren
Schmach des Bewusstseins
....
Labels:
BenHuRum
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