Montag, 25. Februar 2013

DIE ANDERE II ("Platt")


Fortsetzung der Fortsetzung.

Der Winter-Erzählung in drei Teilen „"Der Andere“ folgt die winterliche Geschichte „Die Andere“, gleichfalls in drei Teilen. Der erste Teil endete mit Tanti Hedis Frage an ihre Nichte Vera, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat: „Gibt es einen anderen?“

***

Vera schüttelte den Kopf. Der Andere – Klima, ihr Vater, der unbekannte Onkel. Gab es einen Anderen? Es gibt immer einen Anderen, dachte sie. Wie in so einer russischen Puppe: Wenn du sie aufmachst, ist immer noch eine andere drin. „Nein?“. Hedi klang nicht überzeugt. „Vielleicht.“, sagte Vera. „Aber darum geht es nicht.“ „Wollen wir ein wenig spazieren gehen?“ Vera nickte. „Lass mich nur kurz ins Bad.“ Sie wischte vor dem Spiegel die Schlieren unter ihren Augen weg, die Wimperntusche vermischt mit Tränenwasser hinterlassen hatte. Siehst nicht gut aus, Vera, gar nicht gut. Das hattest du dir anders vorgestellt. Sich in Klimas Arme fallen lassen. Von Papas bestem Freund an die Hand genommen werden. Heimkommen in das fremde Vaterland. Was für ein Quatsch. Sie drückte energisch die Klospülung, obwohl sie gar nicht gepinkelt hatte.

Hedi sah skeptisch auf Veras Schuhe. Es waren keine High Heels, sondern mittelhohe Pumps mit breitem Absatz. „Für den Matsch sind die nicht geeignet. Hast du nichts anderes?“ Vera schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vorgehabt, ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen. In der kleinen Reisetasche, die sie auf den Rücksitz geworfen hatte, nachdem sie sich entschlossen hatte, zu Hedi zu fahren, waren nur frische Unterwäsche und ein Pulli zum Wechseln. Das war alles zu überstürzt gewesen und sinnlos, dachte sie, bloß weil sie nicht allein hatte in der neuen Wohnung bleiben wollen an diesem ersten Wochenende nach der Trennung, das Jana bei ihrem Vater verbrachte. Hedi kramte im Flurschrank. „Hier sind noch ein Paar Gummistiefel von Linda. Die hat deine Größe, glaube ich. Meine sind dir ja viel zu groß.“ Hedi war eine große Frau, grobknochig und lässig, ganz anders als Veras Mutter gewesen war, die so viel fragiler und verfeinerter gewirkt hatte. Gehorsam schlüpfte Vera in die platten grünen Gummitreter, die Hedi ihr hin stellte. „Wenigstens hast du eine dicke Jacke.“, prüfte Hedi Veras Garderobe auch oben rum. Vera musste lachen. „Du behandelst mich wie ein Kind.“ „Deshalb bist du doch hier.“

Sie traten vor die Tür. Hedi fummelte in ihrer Jackentasche herum und zog eine Zigarettenpackung heraus. „Du rauchst?“, fragte Vera erstaunt. „Immer schon“, grinste Hedi. „Immer heimlich.“ Sie gingen ein Stück die Einfahrt hinauf. Hinter der Garage steckte Hedi sich die Zigarette an. Vera warf einen Blick zurück auf das flache, langgestreckte Walmdachhaus, das umgeben von einem riesigen Garten stand, in weitem Abstand zu den Nachbarhäusern, die hinter den Bäumen und Hecken kaum zu erkennen waren. „Wolfgang...“ „Der weiß es. Aber eben nicht im Haus.“ „Aber der hat doch immer Zigarre geraucht früher.“ „Schon. Jetzt darf er nicht mehr. Er hat´s nie gern gesehen, wenn Frauen rauchen.“ Vera starrte Hedi ungläubig an. „Du meinst: Du rauchst heimlich, weil Wolfgang es nicht sehen kann, wenn eine Frau eine Zigarette in der Hand hält?“ Hedi zuckte die Achsel. „Gibt Schlimmeres.“  Vera wollte noch etwas sagen, schluckte es dann aber runter. Wer bin ich, einer anderen Frau zu erzählen, was sie sich nicht gefallen lassen darf. Ausgerechnet ich. Die Anpasserin. Das Duckmäuserchen. Die Frau Chefarzt. Hedi schob sie mit dem Arm sanft in die andere Richtung. „Da lang. Über die Felder.“ Hinterm Haus erstreckten sich endlos die braunen Winterfelder, nur von dunkelgrauen Betonwegen und helleren Kiespfaden durchzogen, die nirgendwohin zu führen schienen, ab und an ein schrumpeliger Strauch am Wegesrand oder ein einsamer Baum in der Ferne. Aber der Himmel darüber strahlte weiter in diesem geradezu unwirklich grellen Blau durch das langsam die wenigen Wolken zogen. Vera stopfte die Hände in die Jackentasche. Es war kalt und die Handschuhe hatte sie auch vergessen.

„Weites Land“, sagte Vera. „Der Film?“, fragte Hedi. „Nein, an den dachte ich gar nicht. Nur so. Wie weit der Horizont ist. Weit und leer.“ „Deiner Mutter war er nicht weit genug. Oder zu leer. Ich weiß nicht. Sie wollte immer nur weg, solange ich denken kann.“ „Wie war sie? Als Schwester? Als junges Mädchen?“ Hedi antwortete nicht sofort. Sie nahm einen tiefen Zug und blies eine weiße Rauchwolke in die Luft, die sich aber schnell verflüchtigte, bevor sie sprach: „Sie war anders. Meine ältere Schwester. Nie ganz dabei. Sie war schön. Viel schöner als ich. Vielleicht habe ich sie darum beneidet, um dieses  Gesicht mit den hohen Wangenknochen, diese geschwungenen Lippen mit den Grübchen in den Mundwinkeln, die feine Nase, das goldene Haar. Bestimmt. Trotzdem war ich glücklicher, glaube ich. Die Leute sahen sie gern an. Aber sie konnte nicht mit denen. Sie war hochnäsig, dachten die. Doch sie fühlte sich einfach nicht wohl. Sie wollte was anderes, aber sie wusste selbst nicht, was. Nur weg.“ „Warum war sie so unglücklich?“ Das war geblieben. So hatte Vera ihre Mutter in Erinnerung: Eine Frau, deren innere Anspannung oft wie Arroganz wirkte. Sie hatte gedacht, das habe an dem Tschechen gelegen, an ihrem Vater, der auf seine Krawatte kleckerte, böse Witze über den bayrischen Ministerpräsidenten riss und oft stundenlang in seinem Studio verschwand, wenn die Mutter die bessere Bogenhausener Gesellschaft eingeladen hatte, zu der sie so gerne gehört hätte. „Ich weiß es nicht. Unser Vater hat oft mit ihr geschimpft, wenn sie nicht mit wollte in die Kirche oder auf den Rummel. Unsere Mutter hat sie immer in Schutz genommen. Sie hat den Vater auch überredet, ihr den Sekretärinnenkurs in München zu bezahlen. Ich glaube, sie konnte einfach nicht mit den Leuten.“ Sie konnte nicht mit den Leuten, meine Mutter. Sie konnte nicht mal mit ihren eigenen Kindern. Sie war schön und sie wollte so gern dazu gehören, aber sie passte einfach nirgendwo hin. In Bogenhausen fehlte ihr die Bildung und die Herkunft, in den Kreisen ihres Mannes fehlte ihr der Sinn für Kunst und die Lässigkeit und bei ihren Kindern fehlte ihr der Humor. Ein einziges Defizit, die Frau. Meine Mutter. Wie ich. 

Vera beschleunigte ihre Schritte. „Renn nicht so.“, keuchte Hedi. Sie hielt Vera an der Schulter fest. „Sie verschlang die Groschenhefte, die sie am Kiosk holte, gierig. An was anderes kam sie ja nicht. Weißt du, wir hatten  nicht mal eine Bücherei oder so was. Und unser Vater hielt das Lesen von Romanen für Faulheit. Wenn er sie lesen sah, fiel ihm sofort etwas ein, was sie für ihn erledigen konnte.“ Die Mutter hatte gerne gelesen, daran erinnerte Vera sich gut. Die Wohnzimmerwand hatte ein hohes und breites Regal bedeckt, in dem die Bücher standen, die sie wie besessen gekauft hatte. Dicke Wälzer, viel Schund dabei, hatte Vera festgestellt, als sie das Haus nach Mutters Tod und Vaters Auszug geräumt hatte. Liebesschnulzen, in denen die Heldinnen Diana oder Viola hießen und die Angebeteten Alfredo oder Robert von Bernstein oder so. Die Träume ihrer Mutter. So albern. So kitschig. „Ich glaube“, sagte Hedi, „sie sehnte sich danach, errettet zu werden. Von so einem Märchenprinzen.“ „Und dann ist sie an meinen Vater geraten.“, Veras Stimme klang bitter. Das habe ich besser hingekriegt, zunächst jedenfalls, mit meinem Chefarzt, Mama. Ein echter Roman-Held. Dunkel, groß, schlank, beste Manieren, ganz große Oper. „Ja“, lachte Hedi, „ das war eine Überraschung. Geld hat er ja gehabt. Aber sonst...“ „Hat sie ihn geliebt?“ Eigentlich will ich wissen, ob er sie geliebt hat. Oder wie. Wie hat er sie geliebt, wenn er sie so oft allein gelassen hat? Klima sagt, es habe nie eine andere für ihn gegeben. Aber was weiß Klima schon. Nur das, was ihm der Alte weisgemacht hat. „Ja.“ Woher nahm Hedi diese Überzeugung? Vielleicht war er einfach der erste mit Geld und Auto gewesen, der ihr in München über den Weg gelaufen war? „Sie wollte ihn verstehen. Zu ihm gehören. Aber...“ „Sie hatte doch gar keine Ahnung.“ „Er war gebrochen. Wegen seinem Bruder. Und seiner Mutter. Er fühlte sich schuldig.“ „Hat er mit dir darüber gesprochen?“ „Nein. Nie. Aber mit Wolfgang.“ Mit Wolfgang. Ihr Vater hatte sich dem Schweiger anvertraut. Wem sonst? Männer-Gespräche. Als hätte sie den Gedanken gehört, fuhr Hedi fort: „Unter Männern. Hat nicht viele Worte gemacht. Nur berichtet, was passiert war. Als ich mit Marlene darüber sprechen wollte, stellte sich heraus, dass sie keine Ahnung gehabt hatte.“ „Und?“ „Was meinst du?“ „Haben sie dann darüber gesprochen?“ „Ich glaube nicht“, sagte Hedi. „Ich glaube, sie hat gehofft, dass er von sich aus zu ihr kommen würde. Sie hat gewartet. Und sie hat es auch nicht begriffen. Sie war so ignorant auf ihre Art. Politik und so, dafür hat sie sich nie interessiert.“ „Nein.“ Ihre Mutter hatte alle ihre spärlichen Energien darauf verwandt, sich eine Fassade zu errichten, die dem entsprach, was die Frauen-Magazine und Groschenhefte als Ideal vorgaben. Immer perfekt frisiert, edel angezogen, gute Tischmanieren, vornehmes Geschirr, feine Leinenservietten. Nichts davon war ihr selbstverständlich gewesen, alles hatte sie sich abgeschaut und imitiert. Sie war immer ein Fremdkörper. Selbst in meinem Leben. Sie hat mich nur berührt, wenn jemand dabei war. Wenn sie die Mutter spielte. Sie war keine. Ich habe mich so nach ihr gesehnt.

Vera rieb sich die Faust übers Gesicht. Der scharfe Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Der oder die Erinnerung. Hedi warf ihr einen Blick zu. „Ich weiß nicht, was ihr gefehlt hat. Sie hat sich so arg angestrengt. Aber etwas war nie gut genug. Vor allem sie sich selbst nicht. Wolfgang hat deinen Vater gemocht. Ich meine Schwester nicht.“  Vera hakte sich bei Hedi unter. „Danke, dass du so ehrlich bist.“ „Ich hab mir immer ein bisschen Sorgen um euch gemacht. Um Valentin und dich. Ihr saßt da in dem großen Münchener Haus und ward ganz allein.“ Sie schwiegen und folgten weiter dem betonierten Weg, den Hedi zuletzt gewählt hatte und der in einer großen Schleife zurück zum Haus führte. „Ich hätte sie gern gemocht.“, sagte Vera. „Sie hat mir gefehlt. Und Papa.“ „Du hast dich in die Ehe geflüchtet.“, sagte Hedi. „Was für unselbstständige Frauen wir sind, alle in dieser Familie.  Alle auf der Suche nach dem Retter.“ Hedi zog ihr den Arm weg. „Das kannst du nicht vergleichen.“ „Wolfgang als Retter? Ja, kommt einem komisch vor.“ „Er ist ein guter Mann.“ Vera zuckte die Achseln. „Sicher.“ Hedi zog das Zigarettenpäcken aus ihrer Jackentasche. „Noch eine, bevor wir reingehen.“ Vera blieb stehen. „Weißt du, wie ich mich in ihn verliebt habe? Das war in der Tanzstunde. Er hatte mich immer wieder aufgefordert. Ich mochte ihn ganz gern, war aber nicht sehr beeindruckt. Große Reden waren auch damals nicht sein Ding. Er fragte mich viel. Das war auch schön, zu merken, was ihm alles auffiel. Wenn ich außer Atem war, weil der Bus Verspätung hatte. Der Fleck auf meinem Rock, weil ich noch in den Stall gemusst hatte vor der Tanzstunde, um die Kühe zu füttern. Dass ich so zornig  war, weil mein Vater mir verboten hatte,  mich als Heide-Königin zu bewerben. Wolfgang merkte immer alles und fragte mich danach. Er war der erste Mann, den ich traf, der nicht nur über sich selbst und seine Aussichten redete, den ich kennenlernte. Aber er achtete nicht nur auf mich. Ein blasses, bebrilltes Mädchen wurde meistens als letzte aufgefordert. Wolfgang nahm mich beiseite und sagte mir, dass er am liebsten immer nur mit mir tanzen würde, aber jetzt werde er erstmal die Hanne auffordern. Ob ich das verstehen könnte? Das war´s. Da wusste ich, dass ich ihn will. Dass er ein Guter ist.“ „Ein Kümmerer. Also doch: der Retter.  Nur nicht so strahlend. Mehr praktisch.“ Hedi lachte. „Das stimmt. Und ist doch gut gegangen. Vielleicht hätte es anders sein sollen. Dass eine erstmal sich selbst findet, bevor sie einen Mann sucht. Es war aber nicht so. Nicht in unserer Generation. Nicht hier auf dem Land. Einen Beruf lernen, das galt nur als Warteschleife, bevor eine den ´Richtigen´ fand.“ „Und wenn sie ihn nicht fand?“ „Tja.“ Hedi zuckte die Achseln. „Vielleicht sagten wir deshalb so schnell ´ja´, weil wir Angst hatten, allein zu bleiben.“ „Und trotzdem sagst du, es sei gut gegangen.“ „Und: Stimmt´s etwa nicht?“ Hedi machte eine ausgreifende Armbewegung: das Haus, der Garten, der Pool, die Autos. Vera verzog das Gesicht. Hedi kniff sie in den Arm. „So mein ich das gar nicht. Wir sind gut miteinander. Wolfgang und ich. Es passt eben. Oder wir konnten uns passend machen. Wir sind beide praktisch.“ „Und gut.“ Vera versuchte zu lächeln. „Ja.“ Hedi schmunzelte. „Du hast gelogen, nicht wahr? Es gibt da jemanden.“ Hedi sah ihr direkt in die Augen. „Traust du mir das nicht zu? Bin ich nur was mit Mann? Von einem zum anderen?“ Vera wurde wütend. Hedi schloss die Tür auf. Vera folgte ihr in den dunklen Flur. „Zieh die Gummistiefel hier aus und stell sie dort ins Regal.“ Vera schnaubte. Sie war sauer. Hedi knipste das Licht an. „Ich hab´s anders rum gemeint, Vera. Deshalb lässt du´s nicht zu, stimmt´s? Weil du nicht von einem zu anderen hüpfen willst?“ "Ich will mich nicht mehr führen lassen." Vera knallte die Stiefel auf das Regalbrett. "Gut so." Hedi klopfte ihr beruhigend auf die Schultern. 

Das Telefon klingelte. Sie traten ins Wohnzimmer. Wolfgang hatte den Hörer am Ohr. "Na dann.", sagte er und legte auf. "Linda fragt, ob du heute Abend mal rüber kommen willst. Die Kinder sind mit Michael im Kino. Sie würde dich gern sehen." Vera war erstaunt. Sie und Linda hatten sich als Mädchen nicht gut verstanden. Die war ausschließlich mit ihren Gäulen beschäftigt gewesen, die Vera beängstigend fand. "Na gut." "Geh mal rüber zu ihr. Quatsch dich mal aus. Von Frau zu Frau.", lachte Hedi. Von Frau zu Frau. Ich habe keine einzige Freundin, bei der ich mich ausheulen kann. Deshalb bin ich hier. Bei Verwandten, die ich jahrelang ignoriert habe. Die Dorf-Trampel. So hat Mama schon über sie geredet. Abfällig. Aber es gibt keinen anderen Ort, an den ich kann. Nur Klima. Vielleicht.

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