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Montag, 1. April 2013

DIE ANDERE III ("Fette Family")


"Fette Family" ist der dritte und vorerst letzte Teil von "DIE ANDERE", einer Fortsetzung von "DER ANDERE. Eine Wintererzählung." Eigentlich sollte die Geschichte um Vera Vewerka-Binse hiermit enden. Aber nun weiß ich, dass es noch zwei Sommerstücke geben muss: DER EINE./DIE EINE. Dazu muss es aber erst mal wärmer werden. 

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„Mein Gott, wie fett sie geworden ist.“, dachte Vera, als Linda ihr die Tür öffnete. Linda war groß, wie ihre Mutter, aber ungefährt doppelt so breit. Dachte Vera. Schau sie doch einfach mal an. Ohne diese Abwertung im Blick. Linda half ihr aus dem Mantel. Sie trug eine weite lila Weste über einer hellen Jeans und darunter ein orangefarbenes T-Shirt. Mit Gummizug. Ich wette, das ist eine Hose mit Gummizug. Und die grellen Farben. Viele Dicke tragen grelle Farben. Und auffälligen Schmuck. Irgendwer rät ihnen dazu. Vera schämte sich, aber sie konnte nicht aufhören, Lindas Körperfülle und ihre modischen Fauxpas innerlich zu kommentieren. Eine kunterbunte Kette aus großen geometrischen Plastikteilen baumelte über Lindas Brüste bis zum Nabel hinab. Das Gesamtbild wurde durch flauschige Puschen mit rosa Bommeln an den Füßen komplettiert. OMG.„Die Schuhe ziehst du aus, ja? Bitte.“ Das hätte sie sich denken können: Hier wurden die Schuhe ausgezogen, klar, um den Parkettboden zu schonen. Vielleicht gab es sogar Schonbezüge auf den Polstern. Das konnte man nicht ausschließen, nicht bei Linda. Vera verachtete sich selbst dafür, dass sie deren Einladung angenommen hatte. Sie hatte nie mit Linda gekonnt. Gäule und Kerle, sonst hatte die nix im Hirn gehabt. Und immer fröhlich. Immer fröhlich. Vera schüttelte sich innerlich.

Linda ging voraus in Wohnzimmer. Die Wände apricotfarben in – nannte man das so? – Wischtechnik, was sonst, dachte Vera. Eine riesige Couchgarnitur über Eck, beige mit roten und orangefarbenen Kissen drauf, Riesenflachbildschirm mitten im Zimmer, eine Schrankwand aus Buche mit Vitrinen, hinter deren Gläsern allerlei Schnickschnack ausgestellt war: buntbemalte offenbar selbstgetöpferte Tassen, Bastelarbeiten von den Kindern, selbstgezogene Kerzen und eine Sammlung von Porzellanpferden. Genau wie ich es mir vorgestellt habe. Die Wände voll gehängt mit Familienfotos. Immer wieder dieselben vier grinsenden Gesichter. „Der Michi kommt gleich mit den Kindern aus dem Kino. Dann will er noch zum Dart. Deshalb konnte ich nicht rüberkommen zu meinen Eltern, um dich zu sehen. Setz dich doch. Gibt gleich Essen.“ Auf dem Couchtisch stand eine Schüssel mit Erdnussflips. Aufgeschlagen lag eine Frauenzeitschrift. Die Seite mit den Haushaltstipps und den Lebensratschlägen von Frau Marianne war aufgeschlagen. Die lässt kein Klischee aus. Dorf-Trampel. Meine Güte, ich bin wie Mama, Wie Mama. Linda rumorte in der Küche, die sich  direkt an den Essplatz anschloss. „Ich mach einen  Auflauf. Man weiß ja nie, wie lang so ein Film dauert. Lasagne. Das mögen die Kinder. Und der Michi auch.“ Der Michi. Vera stellte sich Jochen in dieser Umgebung vor. Er würde die Augenbrauen hochziehen und dann amüsiert grinsen. Aber hinterher, im Auto, würde er ihr klarmachen, dass es keine gute Idee wäre, diese Verwandten in die Villa am Hang einzuladen. Und Klima? Wie würde Klima sich hier benehmen? Vera wusste es nicht. Er war so verbindlich, so geschickt im Umgang mit den Leuten. Wahrscheinlich würde er über Pferde  mit Linda reden. Sicher kannte er sich auch mit Pferden aus. Klima kannte sich mit allem aus. Dachte Vera. So ein Blödsinn. Er hat keine Ahnung von Gesundheitsökonomie. Meine Fachgebiet. Er hat mich auch nie danach gefragt. Er kann gut schweigen. Linda kam aus der Küche mit Tellern und Bestecken. „Kann ich dir helfen?“ Vera erhob sich. „Du kannst die Gläser aus der Vitrine holen.“ Linda deutete mit dem Kinn zur Vitrine links.

Dann wurde es laut in der Diele. Linda eilte den ihren entgegen. „Die Tante Vera ist da, wisst ihr.“ Der Michi stapfte durch die Tür, groß wie Linda und genauso breit, mit einem runden, fröhlichen Gesicht und einem Bürstenhaarschnitt, in Jeans und einem karierten Hemd, das er nicht in die Hose gesteckt hatte. Hinter ihm lugten die Kinder hervor, rundliche Gesichter über bunten gestrickten Pullovern, dicke Socken mit Noppen an den Füßen. „Grüß dich, Vera. Wir haben uns noch nicht gesehen, denk ich.“ Michi kam auf sie zu und drückte sie fest an sich. Vera musste tief durchatmen. Der roch gut, der Michi, stellte sie zu ihrer Überraschung fest. Frisch und männlich. Seine Umarmung war kurz und herzlich,  dann kümmerte er sich drum, dass die Kinder sich hinsetzten. „Wieso issen das ´ne Tante von uns?“, wollte der Junge wissen. „Die Mama hat doch keine Schwester.“ „Die Vera ist meine Cousine.“, erklärte Linda, die den Auflauf herein trug.

Die Tischmanieren von den Kindern waren erstaunlich gut, obwohl sie durcheinander schwätzten, um ihrer Mama den Film zu erzählen, den sie gesehen hatten. „Und dann ist der weggeflogen, aber da haste gedacht, dass er abstürzt...“ „Warn dann aber doch genug Ballons da dran und der ist über den ganzen Ozean, bis er  doch runter musste, weil dem die Luft ausging...“ „Da ham wir gedacht, jetzt erwischst´s den, aber dann is er auf so einer Insel gelandet...“ „Wie Robinson...“ „Nee, nee, die war ja nicht unbewohnt, die Insel...“ „Die fanden den ganz komisch, vor allem seine Uhr...“ Linda war Vera einen stolzen Blick zu. Familienglück. So ist das in einer Familie, wo die Eltern sich nicht trennen. So fröhlich, vertraulich, gemeinschaftlich. Bäh! Vera erwiderte das Lächeln nicht. Der Michi sah auf seine Uhr. „Mensch, ich muss los. War schön, dich kennenzulernen, Vera.“ Er schaute kurz unsicher zu Linda: „Wir hatten uns doch noch nicht getroffen, oder?“ „Nee, zu unserer Hochzeit konnte Vera nicht kommen.“ Nein, da hatte ich was Besseres vor. Da war ich mit Jochen in San Francisco. Blöde Kuh. Das versteht sie natürlich nicht, dass ich mir diese tolle Hochzeit mit Brautentführung, Paar-Spielchen und Alleinunterhalter am Keyboard habe entgehen lassen. „Also dann.“ Michi drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange und sie klopfte ihm auf die Schultern. Schon war er weg. Vera seufzte erleichtert. Sie würde noch beim Tisch abräumen helfen und sich dann auch loseisen. Die Kinder trugen ihre Teller, Bestecke und Gläser in die Küche und räumten sie ordentlich in die Spülmaschine. Vera machte es ihnen nach. Linda stellte die angebrochene Weinflasche mit ihrem und Veras Weinglas zusammen auf den Couchtisch. „Ihr geht dann mal hoch, ihr zwei, damit ich ein bisschen mit der Vera plaudern kann, ja?“ und tatsächlich verabschiedeten die zwei sich widerspruchsfrei und höflich von Vera. Das hätte ich mich bei Jana nie getraut. Sie einfach wegzuschicken. Und wie die geschmollt hätte. Das kommt vom schlechten Gewissen der berufstätigen Mutter. Linda klopfte neben sich auf das Sofa. „Komm.“ Vera setzte sich auf die Kante. „Noch ein Schluck“, sie nahm das Glas in die Hand, „aber dann muss ich auch mal los.“ „Och, komm, wo wir uns so lange nicht gesehen haben.“ Linda machte einen kleinen Schmollmund und lachte dann. „Ich freu mich schon die ganze Zeit drauf, mal mit dir zu reden.“ Vera konnte nicht anders, als spontan die Augenbrauen hochzuziehen. Beinahe wäre sie mit einem „Worüber denn?“ raus geplatzt. „Weißt du, ich hab dich immer so sehr bewundert. Vera, die Kluge, die Elegante und Schlanke. Bewundert ist natürlich gelogen. Ich war neidisch.“ Linda sah sie herausfordernd an. „Na, da gibt´s ja keinen Grund mehr dafür.“, sagte Vera und meinte das Gegenteil. Kann ja sein, dass meine Ehe gescheitert ist, aber so ein Walross wie Du möchte ich trotzdem nicht sein. Und den Michi nähme ich auch nicht geschenkt.  „Nein. Es gab auch nie einen. Weil ich nämlich nicht wie du bin. Oder du wie ich. Weil diese ganze Vergleicherei uns kaputt macht. Und deshalb habe ich mich auf dich gefreut. Weil ich dir das sagen wollte. Dass ich dich jetzt wirklich bewundere. Aber mich auch.“ Linda lachte erneut und hob ihr Glas. Vera fiel nichts ein, was sie hätte sagen können. Eine verlogene Zustimmung? Einen sarkastischen Spruch? (Den kapiert die doch eh nicht.) „Was ich meine, ist: Ich bin zufrieden, weißt du? Das ist mein Leben. Ein bisschen klein. Ein bisschen gewöhnlich. Gut genug für mich. Ich hab´ Glück gehabt. Weil ich dem Michi gefalle, wie ich bin. Und er mir. Aber du bist mutig. Dass du den Chefarzt sitzen lässt. Finde ich.“ Ogottogott. Jetzt geht alles durch mit der. Was geht die das an? Vera nahm einen Schluck. Ein Lächeln konnte sie sich nicht abringen. Linda rückte ein Stückchen näher. „Wir haben den alle nicht gemocht. Den arroganten Kerl.“ Weil er sich nicht mit euch gemein gemacht hat. So wenig wie ich. Wie meine Mama. Verdammt noch mal. Es muss sich nicht jeder bei euch anbiedern. Pack. Sie hätte Linda jetzt eine reinhauen können. „Aber ihr habt toll ausgesehen zusammen. Wie ein Paar aus einer Fernsehserie. Echt.“ Linda schien das für ein großes Kompliment zu halten. Vera stand auf. „Ich muss mal...“ Linda deutete in den Flur. „Gleich rechts.“ Vera stürzte beinahe aus dem Raum. Diese widerliche, dumme, fette Kuh. Was will die von mir? Sie hielt sich am Beckenrand fest. Ich habe das so satt. Warum habe ich Jochen verlassen? Wegen Klima. Doch wegen Klima? Vera sah Klimas Brustkorb vor sich, der oberste Hemdknopf offen, ein paar vorwitzige Brusthaare, die sich hervorwagten und sie dazu verführten, ihre Hand auszustrecken und den Knopf zu öffnen. Sie hatte das niemals getan. Sie hatte Klimas Brusthaare nie gesehen. Aber er hatte bestimmt welche. Weiche, leicht gewellte Haare. Wie auf seinem Handrücken. Das Grübchen in Jochens Kinn. Seine steife Oberlippe. Sie hatte seine Arroganz geliebt. Vor allem seine Arroganz. Die Härte in seinem Blick und das Selbstbewusstsein, mit dem er Bedenken beiseite schob. Sie ließ sich gern führen. Nicht verführen, allerdings. Das mache ich lieber selbst. Ich hätte nur sitzen bleiben müssen. Damals im Auto. Den Rock ein wenig hochschieben. Wie zufällig. Klima hätte...Vera strich sich den Pony aus der Stirn. Du siehst so alt aus, wie du bist, Vera Vewerka. Vera Binse. Vera Klima. Du trägst immer den Namen eines Mannes. Du kannst einfach nicht mit Frauen. Dumme Ziegen. Linda-Trampel. Kuh. Wie hässlich dich die Bosheit macht. Sie ließ ein wenig Wasser laufen und wusch sich die Hände.

Als sie wieder hinaus kam, winkte ihr Linda mit dem Telefon am Ohr zu. „Hanni, ich hab grad Besuch. Meine Cousine. Ja, die elegante aus Frankfurt.“ Sie zwinkerte Vera zu. „Bis dann, Hanni. Wir sehen uns morgen.“ „Du, ich muss dann auch mal... bin doch ziemlich müde.“ Linda schüttelte den Kopf und zog Vera noch einmal neben sich aufs Sofa. „Nimmt dich die Trennung mit?“ Vera nickte. Das war einfacher als eine Erklärung. Soll sie sich doch denken, was sie will. Macht sie ja eh. „Tut mir leid, was ich gesagt habe. Dass wir ihn nicht mochten und so...Es stimmt zwar, aber es war nicht taktvoll. Ich weiß ja gar nicht, warum ihr euch getrennt habt. Und überhaupt: Wer weiß schon, wie´s drinnen aussieht, in den Beziehungen von andern Leuten.“ „Ihr beide wirkt doch sehr glücklich, du und dein Michi.“ Vera gab sich Mühe, aus ihrer Stimme die Ironie herauszuhalten. Aber Linda nickte zustimmend. „Ich hab das immer gewusst, dass es der Michi ist. Aber ich hab lang gebraucht, mit mir einverstanden zu sein. Dass ich halt nicht schick, nicht schlank, nicht schlau bin. Tierärztin wollte ich werden. Dafür hätten die Noten nie gereicht.“ „Du hattest vielleicht anderes im Kopf als Schule.“ Weiß Gott. Gäule, Disco, Jungs. „Ich mach mir nix mehr vor. Selbst wenn ich gepaukt hätte wie ´ne Verrückte; viel mehr war einfach nicht drin. Die Lehre bei meinem Vater im Geschäft, das war schon öde. Da war ich froh, als ich schwanger wurde vom Michi. Ich hab´s geradezu darauf angelegt, weißt du.“ Vera nahm noch einen Schluck Wein. Was sollte sie dazu sagen? Peinlich war das. Schlimm genug, wenn es stimmte. Aber das Linda ihr das einfach so erzählte, war ein starkes Stück. Fand Vera. Ich will das nicht hören. Was für ein Gesicht soll ich dazu machen? „Das schockt dich, stimmt´s? Es war aber so. Und der Michi hat es auch gewusst. Wir haben schon Glück gehabt, dass mein Vater so großzügig war. Was der Michi verdient, täte nicht reichen, für das hier.“ Sie machte eine raumgreifende Geste. Wie ihre Mutter. Unfassbar. „Ich find´s mutig, was du machst. Deine eigene Frau stehen.“ Linda kicherte. „Kann man so sagen, oder? Auf den Chef-Arzt pfeifen.“ Vera stand auf. „Ich muss jetzt wirklich...“ Sie schaute angestrengt in die Vitrine, um Lindas Blick auszuweichen. „Die Pferde. Meine Leidenschaft. Könnte ich mir auch nicht leisten ohne Papa.“ Immerhin war Linda ehrlich. Ehrlicher als ich. Ehrlicher als ich zu mir selbst bin. Meine Güte. „Weißt du, dass der Michi Pferde doof gefunden hat? Ich meine, bevor er mit mir gegangen ist.“ Jetzt blickte Vera auf: „Echt?“ „Ja. Das war richtig süß, wie er mich über Pferderassen und so ausgefragt hat und gar keine Ahnung hatte und eigentlich auch gar keine Lust drauf, aber sich ganz arg angestrengt, um an mich ranzukommen.“ Oder an den Geldbeutel von deinem Vater. „Da hab ich  mich endgültig verliebt, als er gelernt hat, die Pferde zu versorgen.“ Vera räusperte sich. „Ich muss wirklich....“ Linda führte sie in den Flur. Vera schlüpft beinahe panisch in ihre Schuhe, um endlich wegzukommen. Linda umarmte sie noch einmal heftig. „War schön, dich zu sehen. Danke, dass du rüber gekommen bist. Und ich hoffe, du kommst jetzt öfter mal, Vera. Jetzt, wo du den Chefarzt los bist.“ Linda lachte noch, als Vera schon die Tür hinter sich zuknallte.

Zufrieden, Linda? Hast du es mir gezeigt? Was du mir zeigen wolltest: Lindas Happy family. Broken Vera. Verdammt. Und es hat funktioniert, obwohl ich es durchschaue. Es hat funktioniert. Dass ich dir am Ende den moppeligen Michi neide, der so gut riecht und für dich Pferde striegelt. Vera lachte bitter in die kalte Winternacht. Vor ihrem Mund bildete sich eine Atemwolke. Sie blies sie weg. Ich habe Jochen geliebt, auch wenn keine von euch das glaubt. Ich hab mir gewünscht, dass er mich was fragt. Oder Klima. Warum fühle ich mich von Männern angezogen, die mich führen wollen?  Ihr Handy vibrierte in der Hosentasche. Klima. Sie ging ran. „Ja?“ „Vera?“ „Wer sonst?“ „Hast du schlechte Laune?“ „Nein. Doch. Keine Ahnung.“ „Ich warte auf dich.“ „Ich nicht.“ „Wie bitte?“ „Ich warte nicht. Jan. Hast du eine Frage an mich?“ „Was meinst du?“ „Willst du etwas von mir wissen?“ „Wann kommst du endlich zu mir nach Zlin?“ Vera lachte. Böse. „Das war die falsche Frage. Ganz falsch. Und ich weiß es nicht, ob ich komme.“ „Vera...“ Sie schaltete das Handy aus. 


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Montag, 25. Februar 2013

DIE ANDERE II ("Platt")


Fortsetzung der Fortsetzung.

Der Winter-Erzählung in drei Teilen „"Der Andere“ folgt die winterliche Geschichte „Die Andere“, gleichfalls in drei Teilen. Der erste Teil endete mit Tanti Hedis Frage an ihre Nichte Vera, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat: „Gibt es einen anderen?“

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Vera schüttelte den Kopf. Der Andere – Klima, ihr Vater, der unbekannte Onkel. Gab es einen Anderen? Es gibt immer einen Anderen, dachte sie. Wie in so einer russischen Puppe: Wenn du sie aufmachst, ist immer noch eine andere drin. „Nein?“. Hedi klang nicht überzeugt. „Vielleicht.“, sagte Vera. „Aber darum geht es nicht.“ „Wollen wir ein wenig spazieren gehen?“ Vera nickte. „Lass mich nur kurz ins Bad.“ Sie wischte vor dem Spiegel die Schlieren unter ihren Augen weg, die Wimperntusche vermischt mit Tränenwasser hinterlassen hatte. Siehst nicht gut aus, Vera, gar nicht gut. Das hattest du dir anders vorgestellt. Sich in Klimas Arme fallen lassen. Von Papas bestem Freund an die Hand genommen werden. Heimkommen in das fremde Vaterland. Was für ein Quatsch. Sie drückte energisch die Klospülung, obwohl sie gar nicht gepinkelt hatte.

Hedi sah skeptisch auf Veras Schuhe. Es waren keine High Heels, sondern mittelhohe Pumps mit breitem Absatz. „Für den Matsch sind die nicht geeignet. Hast du nichts anderes?“ Vera schüttelte den Kopf. Sie hatte nicht vorgehabt, ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen. In der kleinen Reisetasche, die sie auf den Rücksitz geworfen hatte, nachdem sie sich entschlossen hatte, zu Hedi zu fahren, waren nur frische Unterwäsche und ein Pulli zum Wechseln. Das war alles zu überstürzt gewesen und sinnlos, dachte sie, bloß weil sie nicht allein hatte in der neuen Wohnung bleiben wollen an diesem ersten Wochenende nach der Trennung, das Jana bei ihrem Vater verbrachte. Hedi kramte im Flurschrank. „Hier sind noch ein Paar Gummistiefel von Linda. Die hat deine Größe, glaube ich. Meine sind dir ja viel zu groß.“ Hedi war eine große Frau, grobknochig und lässig, ganz anders als Veras Mutter gewesen war, die so viel fragiler und verfeinerter gewirkt hatte. Gehorsam schlüpfte Vera in die platten grünen Gummitreter, die Hedi ihr hin stellte. „Wenigstens hast du eine dicke Jacke.“, prüfte Hedi Veras Garderobe auch oben rum. Vera musste lachen. „Du behandelst mich wie ein Kind.“ „Deshalb bist du doch hier.“

Sie traten vor die Tür. Hedi fummelte in ihrer Jackentasche herum und zog eine Zigarettenpackung heraus. „Du rauchst?“, fragte Vera erstaunt. „Immer schon“, grinste Hedi. „Immer heimlich.“ Sie gingen ein Stück die Einfahrt hinauf. Hinter der Garage steckte Hedi sich die Zigarette an. Vera warf einen Blick zurück auf das flache, langgestreckte Walmdachhaus, das umgeben von einem riesigen Garten stand, in weitem Abstand zu den Nachbarhäusern, die hinter den Bäumen und Hecken kaum zu erkennen waren. „Wolfgang...“ „Der weiß es. Aber eben nicht im Haus.“ „Aber der hat doch immer Zigarre geraucht früher.“ „Schon. Jetzt darf er nicht mehr. Er hat´s nie gern gesehen, wenn Frauen rauchen.“ Vera starrte Hedi ungläubig an. „Du meinst: Du rauchst heimlich, weil Wolfgang es nicht sehen kann, wenn eine Frau eine Zigarette in der Hand hält?“ Hedi zuckte die Achsel. „Gibt Schlimmeres.“  Vera wollte noch etwas sagen, schluckte es dann aber runter. Wer bin ich, einer anderen Frau zu erzählen, was sie sich nicht gefallen lassen darf. Ausgerechnet ich. Die Anpasserin. Das Duckmäuserchen. Die Frau Chefarzt. Hedi schob sie mit dem Arm sanft in die andere Richtung. „Da lang. Über die Felder.“ Hinterm Haus erstreckten sich endlos die braunen Winterfelder, nur von dunkelgrauen Betonwegen und helleren Kiespfaden durchzogen, die nirgendwohin zu führen schienen, ab und an ein schrumpeliger Strauch am Wegesrand oder ein einsamer Baum in der Ferne. Aber der Himmel darüber strahlte weiter in diesem geradezu unwirklich grellen Blau durch das langsam die wenigen Wolken zogen. Vera stopfte die Hände in die Jackentasche. Es war kalt und die Handschuhe hatte sie auch vergessen.

„Weites Land“, sagte Vera. „Der Film?“, fragte Hedi. „Nein, an den dachte ich gar nicht. Nur so. Wie weit der Horizont ist. Weit und leer.“ „Deiner Mutter war er nicht weit genug. Oder zu leer. Ich weiß nicht. Sie wollte immer nur weg, solange ich denken kann.“ „Wie war sie? Als Schwester? Als junges Mädchen?“ Hedi antwortete nicht sofort. Sie nahm einen tiefen Zug und blies eine weiße Rauchwolke in die Luft, die sich aber schnell verflüchtigte, bevor sie sprach: „Sie war anders. Meine ältere Schwester. Nie ganz dabei. Sie war schön. Viel schöner als ich. Vielleicht habe ich sie darum beneidet, um dieses  Gesicht mit den hohen Wangenknochen, diese geschwungenen Lippen mit den Grübchen in den Mundwinkeln, die feine Nase, das goldene Haar. Bestimmt. Trotzdem war ich glücklicher, glaube ich. Die Leute sahen sie gern an. Aber sie konnte nicht mit denen. Sie war hochnäsig, dachten die. Doch sie fühlte sich einfach nicht wohl. Sie wollte was anderes, aber sie wusste selbst nicht, was. Nur weg.“ „Warum war sie so unglücklich?“ Das war geblieben. So hatte Vera ihre Mutter in Erinnerung: Eine Frau, deren innere Anspannung oft wie Arroganz wirkte. Sie hatte gedacht, das habe an dem Tschechen gelegen, an ihrem Vater, der auf seine Krawatte kleckerte, böse Witze über den bayrischen Ministerpräsidenten riss und oft stundenlang in seinem Studio verschwand, wenn die Mutter die bessere Bogenhausener Gesellschaft eingeladen hatte, zu der sie so gerne gehört hätte. „Ich weiß es nicht. Unser Vater hat oft mit ihr geschimpft, wenn sie nicht mit wollte in die Kirche oder auf den Rummel. Unsere Mutter hat sie immer in Schutz genommen. Sie hat den Vater auch überredet, ihr den Sekretärinnenkurs in München zu bezahlen. Ich glaube, sie konnte einfach nicht mit den Leuten.“ Sie konnte nicht mit den Leuten, meine Mutter. Sie konnte nicht mal mit ihren eigenen Kindern. Sie war schön und sie wollte so gern dazu gehören, aber sie passte einfach nirgendwo hin. In Bogenhausen fehlte ihr die Bildung und die Herkunft, in den Kreisen ihres Mannes fehlte ihr der Sinn für Kunst und die Lässigkeit und bei ihren Kindern fehlte ihr der Humor. Ein einziges Defizit, die Frau. Meine Mutter. Wie ich. 

Vera beschleunigte ihre Schritte. „Renn nicht so.“, keuchte Hedi. Sie hielt Vera an der Schulter fest. „Sie verschlang die Groschenhefte, die sie am Kiosk holte, gierig. An was anderes kam sie ja nicht. Weißt du, wir hatten  nicht mal eine Bücherei oder so was. Und unser Vater hielt das Lesen von Romanen für Faulheit. Wenn er sie lesen sah, fiel ihm sofort etwas ein, was sie für ihn erledigen konnte.“ Die Mutter hatte gerne gelesen, daran erinnerte Vera sich gut. Die Wohnzimmerwand hatte ein hohes und breites Regal bedeckt, in dem die Bücher standen, die sie wie besessen gekauft hatte. Dicke Wälzer, viel Schund dabei, hatte Vera festgestellt, als sie das Haus nach Mutters Tod und Vaters Auszug geräumt hatte. Liebesschnulzen, in denen die Heldinnen Diana oder Viola hießen und die Angebeteten Alfredo oder Robert von Bernstein oder so. Die Träume ihrer Mutter. So albern. So kitschig. „Ich glaube“, sagte Hedi, „sie sehnte sich danach, errettet zu werden. Von so einem Märchenprinzen.“ „Und dann ist sie an meinen Vater geraten.“, Veras Stimme klang bitter. Das habe ich besser hingekriegt, zunächst jedenfalls, mit meinem Chefarzt, Mama. Ein echter Roman-Held. Dunkel, groß, schlank, beste Manieren, ganz große Oper. „Ja“, lachte Hedi, „ das war eine Überraschung. Geld hat er ja gehabt. Aber sonst...“ „Hat sie ihn geliebt?“ Eigentlich will ich wissen, ob er sie geliebt hat. Oder wie. Wie hat er sie geliebt, wenn er sie so oft allein gelassen hat? Klima sagt, es habe nie eine andere für ihn gegeben. Aber was weiß Klima schon. Nur das, was ihm der Alte weisgemacht hat. „Ja.“ Woher nahm Hedi diese Überzeugung? Vielleicht war er einfach der erste mit Geld und Auto gewesen, der ihr in München über den Weg gelaufen war? „Sie wollte ihn verstehen. Zu ihm gehören. Aber...“ „Sie hatte doch gar keine Ahnung.“ „Er war gebrochen. Wegen seinem Bruder. Und seiner Mutter. Er fühlte sich schuldig.“ „Hat er mit dir darüber gesprochen?“ „Nein. Nie. Aber mit Wolfgang.“ Mit Wolfgang. Ihr Vater hatte sich dem Schweiger anvertraut. Wem sonst? Männer-Gespräche. Als hätte sie den Gedanken gehört, fuhr Hedi fort: „Unter Männern. Hat nicht viele Worte gemacht. Nur berichtet, was passiert war. Als ich mit Marlene darüber sprechen wollte, stellte sich heraus, dass sie keine Ahnung gehabt hatte.“ „Und?“ „Was meinst du?“ „Haben sie dann darüber gesprochen?“ „Ich glaube nicht“, sagte Hedi. „Ich glaube, sie hat gehofft, dass er von sich aus zu ihr kommen würde. Sie hat gewartet. Und sie hat es auch nicht begriffen. Sie war so ignorant auf ihre Art. Politik und so, dafür hat sie sich nie interessiert.“ „Nein.“ Ihre Mutter hatte alle ihre spärlichen Energien darauf verwandt, sich eine Fassade zu errichten, die dem entsprach, was die Frauen-Magazine und Groschenhefte als Ideal vorgaben. Immer perfekt frisiert, edel angezogen, gute Tischmanieren, vornehmes Geschirr, feine Leinenservietten. Nichts davon war ihr selbstverständlich gewesen, alles hatte sie sich abgeschaut und imitiert. Sie war immer ein Fremdkörper. Selbst in meinem Leben. Sie hat mich nur berührt, wenn jemand dabei war. Wenn sie die Mutter spielte. Sie war keine. Ich habe mich so nach ihr gesehnt.

Vera rieb sich die Faust übers Gesicht. Der scharfe Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Der oder die Erinnerung. Hedi warf ihr einen Blick zu. „Ich weiß nicht, was ihr gefehlt hat. Sie hat sich so arg angestrengt. Aber etwas war nie gut genug. Vor allem sie sich selbst nicht. Wolfgang hat deinen Vater gemocht. Ich meine Schwester nicht.“  Vera hakte sich bei Hedi unter. „Danke, dass du so ehrlich bist.“ „Ich hab mir immer ein bisschen Sorgen um euch gemacht. Um Valentin und dich. Ihr saßt da in dem großen Münchener Haus und ward ganz allein.“ Sie schwiegen und folgten weiter dem betonierten Weg, den Hedi zuletzt gewählt hatte und der in einer großen Schleife zurück zum Haus führte. „Ich hätte sie gern gemocht.“, sagte Vera. „Sie hat mir gefehlt. Und Papa.“ „Du hast dich in die Ehe geflüchtet.“, sagte Hedi. „Was für unselbstständige Frauen wir sind, alle in dieser Familie.  Alle auf der Suche nach dem Retter.“ Hedi zog ihr den Arm weg. „Das kannst du nicht vergleichen.“ „Wolfgang als Retter? Ja, kommt einem komisch vor.“ „Er ist ein guter Mann.“ Vera zuckte die Achseln. „Sicher.“ Hedi zog das Zigarettenpäcken aus ihrer Jackentasche. „Noch eine, bevor wir reingehen.“ Vera blieb stehen. „Weißt du, wie ich mich in ihn verliebt habe? Das war in der Tanzstunde. Er hatte mich immer wieder aufgefordert. Ich mochte ihn ganz gern, war aber nicht sehr beeindruckt. Große Reden waren auch damals nicht sein Ding. Er fragte mich viel. Das war auch schön, zu merken, was ihm alles auffiel. Wenn ich außer Atem war, weil der Bus Verspätung hatte. Der Fleck auf meinem Rock, weil ich noch in den Stall gemusst hatte vor der Tanzstunde, um die Kühe zu füttern. Dass ich so zornig  war, weil mein Vater mir verboten hatte,  mich als Heide-Königin zu bewerben. Wolfgang merkte immer alles und fragte mich danach. Er war der erste Mann, den ich traf, der nicht nur über sich selbst und seine Aussichten redete, den ich kennenlernte. Aber er achtete nicht nur auf mich. Ein blasses, bebrilltes Mädchen wurde meistens als letzte aufgefordert. Wolfgang nahm mich beiseite und sagte mir, dass er am liebsten immer nur mit mir tanzen würde, aber jetzt werde er erstmal die Hanne auffordern. Ob ich das verstehen könnte? Das war´s. Da wusste ich, dass ich ihn will. Dass er ein Guter ist.“ „Ein Kümmerer. Also doch: der Retter.  Nur nicht so strahlend. Mehr praktisch.“ Hedi lachte. „Das stimmt. Und ist doch gut gegangen. Vielleicht hätte es anders sein sollen. Dass eine erstmal sich selbst findet, bevor sie einen Mann sucht. Es war aber nicht so. Nicht in unserer Generation. Nicht hier auf dem Land. Einen Beruf lernen, das galt nur als Warteschleife, bevor eine den ´Richtigen´ fand.“ „Und wenn sie ihn nicht fand?“ „Tja.“ Hedi zuckte die Achseln. „Vielleicht sagten wir deshalb so schnell ´ja´, weil wir Angst hatten, allein zu bleiben.“ „Und trotzdem sagst du, es sei gut gegangen.“ „Und: Stimmt´s etwa nicht?“ Hedi machte eine ausgreifende Armbewegung: das Haus, der Garten, der Pool, die Autos. Vera verzog das Gesicht. Hedi kniff sie in den Arm. „So mein ich das gar nicht. Wir sind gut miteinander. Wolfgang und ich. Es passt eben. Oder wir konnten uns passend machen. Wir sind beide praktisch.“ „Und gut.“ Vera versuchte zu lächeln. „Ja.“ Hedi schmunzelte. „Du hast gelogen, nicht wahr? Es gibt da jemanden.“ Hedi sah ihr direkt in die Augen. „Traust du mir das nicht zu? Bin ich nur was mit Mann? Von einem zum anderen?“ Vera wurde wütend. Hedi schloss die Tür auf. Vera folgte ihr in den dunklen Flur. „Zieh die Gummistiefel hier aus und stell sie dort ins Regal.“ Vera schnaubte. Sie war sauer. Hedi knipste das Licht an. „Ich hab´s anders rum gemeint, Vera. Deshalb lässt du´s nicht zu, stimmt´s? Weil du nicht von einem zu anderen hüpfen willst?“ "Ich will mich nicht mehr führen lassen." Vera knallte die Stiefel auf das Regalbrett. "Gut so." Hedi klopfte ihr beruhigend auf die Schultern. 

Das Telefon klingelte. Sie traten ins Wohnzimmer. Wolfgang hatte den Hörer am Ohr. "Na dann.", sagte er und legte auf. "Linda fragt, ob du heute Abend mal rüber kommen willst. Die Kinder sind mit Michael im Kino. Sie würde dich gern sehen." Vera war erstaunt. Sie und Linda hatten sich als Mädchen nicht gut verstanden. Die war ausschließlich mit ihren Gäulen beschäftigt gewesen, die Vera beängstigend fand. "Na gut." "Geh mal rüber zu ihr. Quatsch dich mal aus. Von Frau zu Frau.", lachte Hedi. Von Frau zu Frau. Ich habe keine einzige Freundin, bei der ich mich ausheulen kann. Deshalb bin ich hier. Bei Verwandten, die ich jahrelang ignoriert habe. Die Dorf-Trampel. So hat Mama schon über sie geredet. Abfällig. Aber es gibt keinen anderen Ort, an den ich kann. Nur Klima. Vielleicht.

Freitag, 11. Januar 2013

DIE ANDERE I ("Ehe im Eimer")


(eine Fortsetzung zu der dreiteiligen Wintererzählung: DER ANDERE)*


„Ist deine Ehe im Eimer?“ Vera musste über diese direkte Frage sogar lachen. „Ist im Eimer, ja.“, sagte sie. „Dachte ich mir, als du anriefst. Wir haben uns ewig nicht gesehen.“ Damit hatte Tante Hedi recht. Vera hatte sich seit dem Tod ihrer Mutter nur selten bei deren Schwester gemeldet;  Grußkarten zu den Feiertagen, ein Anruf jedes Jahr zum Geburtstag. Vera wusste nicht mal genau, warum sie Hedi um dieses Treffen gebeten hatte. Das machte aber nichts, denn Hedi wusste es offensichtlich. „Einen Schnaps?“ Hedi hielt die Flasche schon in der Hand. „Selbst gebrannt von Wolfgang.“ Hedi stellte zwei kleine Gläser auf den Tisch und goss sie bis zum Rand voll. „Denn man zu.“ Vera hob ihr Glas und kippte den Inhalt in einem Zug runter. Sie schüttelte sich. „Forsch.“ Hedi lachte. „Preise gewinnt er damit nicht. Aber Wirkung hat es, das Zeug.“ Wolfgang, dessen Schnauzer sie mächtiger in Erinnerung gehabt hatte und dunkler, hatte sie zur Begrüßung nur kurz angegrunzt und sich dann mit seinen Schlappen und seiner Zeitung in einem Ledersessel im Erker verschanzt. Gesprächig war er noch nie. So war es immer schon gewesen, jedenfalls soweit Vera sich erinnern konnte. Wolfgang war da, aber spielte keine Rolle, nicht hier, nicht, wenn die Frauen unter sich waren. Ob er dabei saß oder nicht, war gleich, es wurde über Frauenkrankheiten, Männergeschichten und Unterwäsche geredet. Es musste allerdings Menschen  geben, die einen anderen Wolfgang kannten. Das große Haus mit dem Pool im Garten, die drei dicken Autos, die Pferde für Cousine Linda, all das hatten Wolfgangs Wald und sein Holzhandel finanziert. Als er sich vor einigen Jahren zur Ruhe setzte, hatte er beides, wie Jochen, woher auch immer, erfahren haben wollte, für einen „exorbitanten Preis“ verkauft.

„Ist der Herr Chefarzt fremdgegangen?“ Hedi fragte das beiläufig, ohne jeden Vorwurf in der Stimme. „In eurer Generation ist das ein Trennungsgrund, stimmt´s?“ Vera warf aus den Augenwinkeln einen Blick zum Ledersessel. Keine Reaktion dort. Sie antwortete nicht direkt. „Ihr mögt ihn alle nicht. Valentin. Du. Auch Papa konnte ihn nicht leiden. Glaubst du, Mama hätte ihn auch abgelehnt?“„Keine Ahnung, ehrlich.“ Hedi überlegte ernsthaft. „Es hätte ihr vielleicht gefallen, dass er was hermacht.“ Vera nickte. Ihre Mutter hatte auf Formen und Status Wert gelegt. Schnaps vor Mittag wäre bei ihr undenkbar gewesen. Komisch nur, dass so eine an ihren Vater, den Tschechen, geraten war, der sich über alle Konventionen immer nur lustig gemacht hatte. „Warum mögt ihr ihn nicht?“ Sie wusste auch nicht, weshalb sie das jetzt noch fragte. Die Frage hätte ich vor fünfzehn Jahren stellen sollen, dachte sie. Jetzt ist es doch völlig egal. Hedi antwortete nicht sofort. Sie nippte noch einmal an ihrem Glas, bevor sie es energisch auf den Tisch stellte. Was sie dann sagte, kam für Vera unerwartet. „Weil du ihn nicht liebst.“ Schlagartig war ihr klar, warum sie gefragt hatte. Sie hatte über Jochen lästern wollen. Hören, dass er arrogant war, egoistisch, rücksichtslos, gefühllos. Es nicht selber sagen, sondern sagen lassen. Wie er sie behandelte, so herablassend, bevormundend, so selbstgefällig. Das hatte sie hören wollen, von Tante Hedi, die ihn nicht leiden konnte. „Schau mich nicht so an.“, sagte Hedi. „Es stimmt doch.“ Sie wollte es leugnen, unbedingt. „Ich habe mich so nach ihm gesehnt.“  Hedi nickte, als sei das kein Widerspruch zu dem, was sie gerade gesagt hatte. So ähnlich hatte Vera es auch vor beinahe einem Jahr Valentin, ihrem Bruder, gegenüber formuliert, in Zlin, von wo aus sie noch mal zurückkehrt war zu Jochen: „Ich sehne mich immer noch nach ihm.“ Hedi nickte erneut, dehnte das Schweigen offenbar bewusst aus. Was sollte Vera klar werden durch dieses Schweigen? Sehnsucht ist nicht Liebe. Ich habe nicht ihn gewollt. Habe ich ihn nie gewollt? „Er war perfekt. Gutaussehend. Erfolgreich. Wohlhabend. Und verliebt. Verliebt in dich. Rote Rosen. Spontane Ausflüge ans Meer. So romantisch.“ „Das klingt so berechnend.“ „Sei mal ehrlich.“ „Ich habe nie an sein Geld gedacht. Oder seine Position.“ „Aber sie gerne in Kauf genommen. All die Vorteile.“ Vera schluckte. Das denken alle über mich. Valentin. Papa. Sie haben alle immer gedacht, dass ich mich ins gemachte Nest gesetzt habe. Mr. Perfect für die kleine Prinzessin Etepetete.

War es so gewesen? Sie hatte sich nach Jochen verzehrt. So erzählte sie sich die Geschichte. Jochen, der immer unerreichbar geblieben war. Der Chefarzt. In dessen Leben sie nur einen fest umrissenen Platz zugewiesen bekommen hatte. Der nie Fragen stellte. Der immer den passenden Wein bestellte. Hatte sie ihn deshalb genommen? Weil sie ihn nicht liebte und nicht lieben konnte? „Das ist doch Unsinn“, sagte sie. „Ich war nie abhängig von ihm. Finanziell meine ich. Ich habe ihn sehr geliebt.“ Hedi schüttelte den Kopf, traurig. „Ich kann ihn nicht leiden. Da hast du Recht. Ich konnte ihn nie leiden, weil du keine Chance hattest, mit ihm glücklich zu werden.“ Vera stand auf. „Das stimmt doch nicht. Wir waren glücklich. Als Jana geboren wurde. In den ersten Jahren mit ihr.“ 

Sie trat ans Fenster und sah hinaus in den Garten. Der Pool war abgedeckt um diese Jahreszeit. Hinter der Mauer konnte man weit übers Land schauen. Sie war jahrelang nicht mehr hier gewesen. Seit Mutters Tod? Das war die Landschaft, in der ihre Mutter groß geworden war. Flach, weit, stumm. Der Schnee war weggetaut, nur ein paar matschige, weiße Klumpen verteilten sich über die braune Fläche. Der Himmel dagegen dröhnte geradezu grellblau darüber, mit einer einzigen wattigen Wolke am Horizont. „Ich will nicht mit dir streiten, Vera. Auch nicht, wenn du deswegen hergekommen bist.“ Hedi klang verletzter, als sie es ihr zugetraut hatte. Vera drehte sich herum. „Ich bin nicht gekommen, um zu streiten. Ich bin gekommen, weil...“ Hedi trat auf sie zu: „Weil deine Mutter tot ist. Weil du nicht zu ihr gehen konntest.“ Sie öffnete die Arme und Vera ließ sich gegen sie fallen. Ihre Schultern zuckten. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr zum Weinen war. Es war so viel zu erledigen gewesen in den letzten Wochen und Monaten. Jochens ungläubiges Staunen. Die gescheiterte Therapie. Gespräche mit den Anwälten. Die Wohnung in Ginnheim. Janas Zorn auf sie. Kongresse. Hedi schob sie ein wenig von sich weg? „Und – gibt es einen Anderen?“

Fortsetzung folgt

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* Das Erzählen im Blog (Literarisches Schreiben im Web 2.0) kann die Möglichkeiten der Serie nutzen, anknüpfen an den Kolportage-Roman des 19. Jahrhunderts; das hat mir von Anfang an gefallen und damit habe ich in der Vergangenheit auf vielfache Weise gespielt. Es müssen nicht immer Cliff-Hanger sein; sie dürfen aber vorkommen. Eine Serie kann - wie es mir bei PUNK PYGMALION gegangen ist - beinahe unabsichtlich zu einer geschlossenen Form, einem Roman, werden; sie kann auch schon so geplant sein, wie ich es in MELUSINE FEATURING ARMGARD und dem Ableger "ICH KÜSSE MEIN LEBEN IN DICH (Die Martenehen)" versuche. Hier geht der "Plot" der Erzählung voraus und die Figuren werden erst nach und nach lebendig, gewinnen ein Eigenleben (das die Erzählung auch empfindlich stören kann). Es gibt auch Serien, wie Wildermuths Elbin, die sich nicht aus einer Geschichte im Kopf entwickeln, sondern aus Sätzen oder sogar aus einzelnen Worten oder Wortspielen. Andere wiederum entstehen allein aus einer einzelnen Figur, die plötzlich präsent wird. So war es bei Frau K. (Und ohne ihre Geschichte zu Ende zu erzählen, verschwand sie wieder). Manchmal sind es auch mehrere Figuren wie in FRAUENSACHEN. Vier Frauen, Sex und der Tod. Bei diesen Erzählungen, die von Grund auf aus Figuren entstanden sind, die für mich manchmal so lebendig und real sind, wie "wirkliche" Menschen, kann ich nie sicher sein, ob sie "abgeschlossen" sind. Ich dachte es zum Beispiel bei FRAUENSACHEN - und dann tauchte Elke wieder auf. Ein weiteres Kaffeekränzchen folgt, denke ich. Vera aus DER ANDERE, einer Erzählung, die ursprünglich auf einen Kommentar von Hans62 zurückging, besucht mich schon länger wieder. Ihre Geschichte geht weiter, offenbar. Während sie nach dem Tod ihres Vaters in Zlin dessen Vergangenheit entdeckte und ihre Gegenwart ihr schmerzlich bewusst wurde, ist sie diesmal auf den Spuren ihrer Mutter. Deshalb heißt die Folge diesmal DIE ANDERE. Um der Symmetrie willen müsste sie auch dreiteilig sein. Schaun wir mal.