Samstag, 28. August 2010

DER SCHWARZE SCHWAN

DER SCHWANENBRUNNEN
Eingelassen in die Säule sollen - sagt die Legende - sich ein goldenes Buch und ein goldener Stift befinden.

ein freund,
der es nicht anders sagt als meynt,
ist so gemein, als wie ein schwartzer schwan,
und wie die raben,
die weisse flügel haben.   Johann Christian Günther

DER SCHWARZE SCHWAN

Es begab sich aber in der Stadt der Schwäne, dass die weiße Königin zum dritten Male schwanger war und überall herrschte große Freude, denn man erwartete und hoffte, dass den zwei zauberhaften weißen Prinzessinnen dieses Mal ein Bruder geboren werde: Ein Schwan so strahlend und hell, elegant und nobel wie sein Vater, der weiße König. Dieser aber bemerkte die Veränderung an der weißen Königin zu ihrem großen Kummer kaum. An den Tagen saß er grübelnd auf seinem goldenen Thron, doch in den Nächten schrieb er unermüdlich mit goldenem Stift Zeile um Zeile in ein goldenes Buch. Fragte die Königin ihn: „Was tust du, mein edler Gemahl?“, so sah er nur unwirsch auf, warf gar nicht gediegen den langen Hals zurück und zischte: „Unterbrich nicht den Lauf der Geschichte, Frau. Die Nacht ist schnell vorüber.“

So ging es alle Tage und alle Nächte bis die Königin es nicht mehr ertrug und sich am helllichten Tag in sein Gemach stahl, das Buch aufschlug, in das er Nacht um Nacht schrieb, und begann zu lesen: „Es war einmal in schwarzer Nacht ...“ Und sie las sich fest und las Seite für Seite, zum Essen musste sie von der Kammerdienerin fast mit Gewalt geschleppt werden. In der Nacht lauschte sie nun dem Stift, der über die Seiten kratzte, wohlwollend und sehnte sich dem Tag entgegen um zu lesen, was ihr Gemahl in den Nächten schrieb. Doch sprachen sie nie miteinander darüber. Still schrieb er in den Nächten und heimlich las sie bei Tage und schweigend saßen sie sich bei den Mahlzeiten gegenüber.

Am Ende einer düsteren Nacht schließlich schrieb der König schwungvoll das Wort Ende auf die letzte Seite,  legte den Stift beiseite und lehnte sich erschöpft zurück. Kaum hatte er den Raum verlassen, eilte die Königin an den Tisch, um die Seiten aufzuschlagen. Doch bevor sie lesen konnte, durchfuhr sie ein heftiger Schmerz. Und sie gebar einen Sohn im Morgengrauen, wiewohl dies wider alle Natur war, denn Schwäne gebären nicht unter Schmerzen, sondern brüten und die Königin bezahlte für diesen Frevel mit ihrem Leben. Ausgeblutet lag sie, noch immer weiß strahlend, in ihrem purpurroten Blut auf den ebenholzschwarzen Brettern. Unter ihren Fittichen fand sich das verschreckte Küken: der Thronfolger.

Das Entsetzen am Hof war groß, doch gelang es vor der Stadt die Umstände der Geburt des jungen Schwanes zu verbergen. Schwestern und Vater aber hatten die schöne Leiche der Mutter gesehen und betrachteten voller Abscheu den hässlichen kleinen Vogel. Daher wurde er weit entfernt von den königlichen Gemächern in einem Seitenflügel des Schlosses groß gezogen. So kam es, dass erst spät bemerkt wurde, was nicht sein durfte: Die weiße Königin hatte sterbend einem schwarzen Schwan das Leben geschenkt.

Als der König gewahr wurde, welch ungeheuerliche Begebenheit sich vollzogen hatte, brach er auf seinem Thron zusammen. Schluchzend fanden ihn seine Töchter. „Es darf“, stieß er unter Tränen hervor, „keine schwarzen Schwäne geben. Alle Schwäne sind weiß. Wer also schwarz ist, kann kein Schwan sein.“ Die Töchter wiegten ihren Vater in den Armen und gaben ihm Recht. So verabredeten sie, den Henker herbeizurufen. In der Frühe traf er ein. Man ließ nach dem schwarzen Bruder rufen, der noch ein wenig tölpelhaft herbei watschelte. Es war der glücklichste Moment seines Lebens, denn noch nie hatte sein Vater nach ihm gerufen und auch seine Schwestern hatten nie nach ihm gefragt. Voll Grauen sahen sie auf den schwarzen Schwan, dessen Schritte langsam sicher wurden, als er den langen Saal hinunter kam. Elegant drehte er seinen Hals auf und mit einem Mal wurden sie gewahr, wie berückend schön er war: der erste schwarze Schwan in der Stadt der Schwäne. Doch durfte es nicht sein. 

Sie baten ihn, seinen Kopf auf den Henkersblock zu legen. Arglos tat er, wie ihm geheißen. Das Beil fiel herab. Das Blut floß auf den weißmarmornen Boden und ein paar Tropfen trafen das Gefieder der Schwestern. Der verendete Körper des schwarzen Schwanes und der abgeschlagene Hals wurden auf Geheiß des Königs in das von ihm seit dem Tod der Königin gemiedene Zimmer gebracht. Dort schloss er sich in der Nacht mit der Leiche seines Sohnes ein. Den Kopf in die Hände gestützt saß er regungslos am Tisch mit dem goldenen Buch und dem goldenen Stift. Erst als der Himmel vor den Fenstern sich schon aufhellte, wagte er es, das Buch aufzuschlagen. In schönster Schrift hatte er in goldenen Lettern den Titel der Geschichte auf der ersten Seite eingetragen: Der schwarze Schwan.

Freitag, 27. August 2010

HUGS (2): Gesuchte Umarmungen

Dieser Text (oder eine Version davon) gehörte ursprünglich zum  2. Teil der Kolumne Körper-Sprache, für die ich die Haltung der von Chodowiecki dargestellten Paare mit meinem eigenen Körper lesen wollte. Eine Begegnung im Park – das muss ich mir,  dachte ich, gar nicht vorstellen, ich kann es direkt beobachten. Ich traf mich in jenen Tagen, als ich daran schrieb, mit einem Freund. Wie wir aufeinander zugingen, wie wir Blickkontakt suchten, uns zueinander stellten und umarmten, wollte ich mir merken, um es mit der Haltung der Dargestellten bei Chodowiecki zu vergleichen.

Erst später erkannte ich, dass diese Begegnung mit den dargestellten Treffen nicht zu vergleichen war: denn weder nehmen wir beide erotisches Interesse aneinander noch sind wir (in einander) verliebt. Was ich beobachtet hatte, hätte mithin den Rahmen des Kolumnenbeitrags gesprengt. Für mich war es dennoch interessant.


BERÜHRUNGSSCHEU 
(tausendmal geübt, immer noch nicht gekonnt...)

K. und ich kennen uns seit 28 Jahren. Wir stehen uns nah. Wir können einander Geheimnisse anvertrauen, von denen außer uns beiden keiner weiß. Am Anfang unserer Freundschaft (wir waren 17 Jahre alt), scheuten wir jede Berührung. Wir verbrachten Tage (und manchmal Nächte) miteinander, wir kochten zusammen und quatschten bis tief in die Nacht, aber wenn sich zufällig unsere Füße unter der Decke, die wir teilten, berührten, zuckten wir aufgeschreckt zurück.

Später, als wir beide „in festen Händen“ waren, wurde es einfacher. Berührungen waren jetzt weniger erschreckend. Wir suchten sie nicht, aber wir vermieden sie auch nicht mehr peinlich. Seit einigen Jahren ist jedoch eine Veränderung eingetreten. Es ist schwer, das zu erklären. Ich stelle fest, dass wir einander nun häufiger anfassen: um uns zu zeigen, wie etwas geht, wenn wir zusammen Sport machen oder Ball spielen, aber auch wenn wir uns begrüßen oder verabschieden. Wir gehen der Berührung nicht mehr aus dem Weg. Wir suchen sie. Aber wir sind unsicher: Wie fest drücke ich, wie lange halte ich, wie zart streichle ich? Wir wollen uns jetzt, denke ich, auch körperlich zeigen, was wir einander bedeuten. Aber es ist schwierig, das richtige Maß zu finden.

Es gibt viele Weisen, sich zu umarmen. Heutzutage, in der Bussi-Kultur, ist es üblich geworden, selbst völlig Fremde herzlich mit so einer Ein-Arm-Umarmung zu begrüßen, Küsschen in die Luft, links, rechts. Ich hatte unter Hugs 1 geschrieben, dass ich das nicht so mag. Das war kein Witz. Ich unterwerfe mich der Konvention, ich kränke niemanden (naja, fast niemanden!), indem ich diese Art der Umarmung verweigere, aber ich selbst würde sie niemals von mir aus wählen, dieses Anfassen ohne innere Beteiligung. Berührung ist für mich immer „anrührend“. Und von jedem will ich mich halt nicht anrühren lassen.

In eine Berührung will ich legen, was ich empfinde. Solche Differenzierungen werden schwieriger, je üblicher das Berühren wird. Zum Beispiel folgende Situation: Ich war mit K. und einem weiteren Freund aus, wir hatten einen lustigen Abend, die beiden begleiten mich zum Bahnhof. Wir verabschieden uns. Der Freund (den ich mag, aber nicht so, wie ich K. mag) umarmt mich und küsst mich auf die Wange. Dann stehen K. und ich uns mit hängenden Schultern gegenüber. Wir wollen uns jetzt zeigen, dass wir uns näher stehen. Ich lege meine Hand auf seinen Oberarm. Er fasst mich um die Taille und zieht mich zu sich heran. Ich lege ihm beide Hände in den Nacken und schmiege meine Wange an seine. Er kratzt mit seinen Bartstoppeln über mein Gesicht. Wir lösen uns voneinander, starren auf den Boden. Auch der Freund hat es gemerkt, räuspert sich und blickt konzentriert beiseite auf eine Leuchtreklame. Dann schauen wir hoch, grinsen uns an. „Wir sehen uns.“ „Ich ruf dich an.“

Wir üben noch. Wie das geht. Das richtige Berührungsmaß für unsere Art Freundschaft. Das ist nicht leicht. Man kann sich dafür nicht aus der Kunstgeschichte oder in Hollywood-Filmen bedienen. Heterosexuelle Freundschaften sind kein häufig vorzufindender Darstellungs- oder Erzählgegenstand. Allenfalls in der Version: „Tausendmal berührt, tausendmal is nix passiert...“. Das ist  aber eine, die wir nicht wollen.

Donnerstag, 26. August 2010

TEUFLISCHE

Besenreiter

auf mich
unter dich
hinter uns
drunter
drüber
lieber
an dir
wegen mir

geht nicht
mehr

liegen geblieben
umgeworfen
rausgehoben
angestoßen

stell mich
auf

gib dich
hin

aus mir
wird dir
Ich


Du:
Wehe mir!


(An Read An)






Long forgotten fairy tale
Head full of steam (when men were pure sex)
Robert is taking the piss out of Prince and Grant is the cute blonde in the background.

BAD HAIR DAY

Das wird heute ein schrecklicher Tag. Da bin ich sicher. Wenn die Haare morgens so aussehen, läuft alles schief. Ich spüre das schon, bevor ich in den Spiegel schaue. Es ziept so fies an der Kopfhaut, dann weiß ich: Heute krieg ich die Haare nicht hin. Kann ich soviel Fönschaum reinmassieren und so lange mit dem Glätteisen ziehen, wie ich will. Das kringelt sich auf und steht ab, wo es nicht hingehört und ich blöde Kuh kann es nicht lassen, in jedes spiegelnde Fenster auf dem Weg zum Bahnhof zu gucken, um mich selber noch ein bisschen fertig zu machen: Guck dir das an. Wie du wieder aussiehst.  Haarsträubend. Das kriegst du dann zurück, Ist ja klar. Du wirfst ein Bild hin und die greifen es auf. Wie die wieder guckt. Launische Person. Grüßt ganz verbissen. Arrogante Schnepfe. Na, die kann was erleben. Soll mal ihren Bericht vorlegen. Da fehlt doch der Eintrag in Zeile 7. Das habe ich Ihnen doch schon letztes Mal gesagt. Ohne diese Angabe können wir kein Fahrgeld auszahlen. Alter Sesselfurzer, denkt sie. Muss mal auf Toilette. Guck dich an. In dem grünlichen Amtslicht. Bad hair day.

Mittwoch, 25. August 2010

WEG MIT DEN MÜTTERN: Die Selbstgeburt des Künstlers

Ausscheidungen, schleimige Hottentotten, laufende Nasen, lange Fingernägel

Die erste Frau des männlichen Kindes, die ihn das Sprechen lehrt (Muttersprache), damit er sich ein Land erobern kann (das des Vaters) wird verherrlicht im Mutter-Mythos, der in ihr die Ur-Natur verkörpert sieht, in der er geborgen war und wohin ihn ein Verlangen immer wieder zurückzieht. Gleichzeitig ist klar: diese Mutter muss weg. Denn in ihr ist nicht nur Ur-Vertrauen, Hinwendung und Wärme verkörpert, sondern auch Geburtsschmerz und Todesnähe. „Natur“ halt, die ewige Kränkung des schöpferischen Herrn.

Um die „Verwerfung der Mütter“ geht es in vielen Selbst-Schöpfungs-Mythen der Kunst (ein Denk-Bild von Benjamin zitierte ich schon in diesem Zusammenhang). Auch Lessing hat sich hier – an bezeichnender Stelle – eingebracht: in seinem berühmten Laokoon-Text, in dem es  vordergründig darum geht, die Unterschiede zwischen bildender Kunst und Literatur herauszuarbeiten, der zugleich aber – in einer tieferen Textschicht -  die Schmerzen der Selbst-Geburt des männlichen Künstlers in der Moderne nachzeichnet. Lessing entzündet seine Diskussion der Darstellungsverfahren bildender Kunst  und Poesie am Bild der Schlange, die Laokoon und seine Söhne umschlungen hat. Wie diese Schlange, so windet sich auch der Lessingsche Text. Er ist geprägt von einer Abwehr gegen die sich schon abzeichnende Aufwertung der Bilder und die Abwertung Schrift im Laufe des 18. Jahrhunderts. Gegen die behauptete statische Schönheit der bildenden Kunst setzt Lessing das Prozesshafte literarischer Darstellungsformen. Dieses Prozesshafte versucht der Text in seiner Form abzubilden.

Im Exkurs über „die Schönheit“ wird wortreich aus der „Schönheit“ der klassischen Kunst alles ausgeschlossen, womit sich der Text selbst unablässig befasst: Kotmaler, die Hässlichkeit moderner Kunst, Abschweifungen und Abweichungen. Statt auf die Schönheit richtet sich der Text Lessings geradezu auf „alles andere“. Damit weist er in seiner Struktur die Unmöglichkeit der behaupteten Gesetzmäßigkeit von Schönheit in Bild und Text nach. Im Text geht es immer wieder um Ausscheidungen, schleimige Hottentotten, laufende Nasen, lange Fingernägel, um alles was eklig und nicht schön ist. Dies Eklige wird von Lessing in doppelter Weise „heraus gebrochen“: als analytisches Verfahren und als quasi-körperliche Ausscheidung, als Erbrechen. Der Text macht sich die Geste der Analyse, der Gliederung zu eigen, die er in der bildenden Kunst als eklige Zergliederung, als Fragmentierung der Körper nachgewiesen hatte. Der Fragment gebliebene Text Lessings verwirft also fragmentierte Körper.


Unvermittelt ist dann plötzlich auch von Müttern die Rede: „Bei uns scheint sich die zarte Einbildungskraft der Mütter nur in Ungeheuern zu äußern“. Zuvor handelte der Text von den Wirkungen der Künste, davon wie in klassischen Zeiten die Bilder die Körper und Seelen bildeten. In der Gegenwart aber sieht Lessing Mütter Ungeheuer gebären. Die männliche Einbildungs- und Schaffenskraft erzeugt „schöne Kunst“, während Frauen monströse Missgeburten ausstoßen. Die Schöpfungskraft des Mann-Künstlers geht bei Lessing (und nicht nur bei ihm) aus einer Verwerfung der gebärenden Mütter hervor. An die Stelle der Mütter soll die (väterliche) Gesetzmäßigkeit der Kunst treten. Doch in Lessings Text bildet sich diese Gesetzmäßigkeit im Bild der Schlange, als verschlungenes, unbeendbares, selbst „verworfenes“ Fragment ab. Erst nach Lessing, als es der Kunst nicht mehr darum geht, die leiblichen Söhne und Töchter zu bilden (nach der Wirkungsästethik also, deren letztes Aufbäumen Lessing hier vorstellt), können die ungeheuerlichen Mütter im Akt einer Selbst-Schöpfung des Künstlers angeeignet und beseitigt werden. Der von Lessing noch gemiedene weibliche Körper (siehe die Wahl des Gegenstands: der Laokoon) wird dann zum Ausdrucksmedium männlicher (Selbst-) Schöpfung.

Es ist viel Großes und Schönes und Schreckliches entstanden aus diesem Akt der Selbstgeburt. Das „Ungeheuer Mutter“, das die körperliche Abhängigkeit bedeutet, den Schmutz, die Sekrete, das Blut und das Wissen um die Endlichkeit wird entsorgt, damit Autonomie und Werk entstehen können. Jedes Schreiben und Bilden ist ein Aufstand gegen den Tod, der in der leiblichen Geburt so präsent ist.

Ich bin Mutter. Und ich habe, wie Eva prophezeit wurde, unter Schmerzen geboren. Da waren Blut und Schleim und Schweiß und Angst und der Tod nur einen Atemzug entfernt. Ich will mich nicht verwerfen. Und nicht verworfen sein. Ich bin die Tochter, die eine Mutter geboren hat. Aus dieser Herkunft „befreie“ ich mich nicht. Die Mutterlinie – ungekränkt, unmännlich. Schön.  Und endlich.

Dienstag, 24. August 2010

DAS WILDE BIEST




"If I am a wild beast, I cannot help it. It´s not my own fault."


Kaum eine, glaube ich, hätte das Zitat oben der braven Tante Jane zugeordnet, die ihre Manuskripte sorgsam unter dem Tisch verbarg, wenn Besucher sich angekündigten. Doch tatsächlich schrieb Jane Austen das 1813 in einem Brief an ihre Schwester Cassandra. Das Biest in Jane Austen - viele haben es erkannt in der Schärfe, mit der sie die Schwächen und Widersprüche des englischen Gentry-Personals aufdeckt, das ihre Roman-Welt bevölkert: die ökonomischen Abhängigkeiten und die parasitäre Lebensform dieser Gesellschaftsschicht.  Es steckt aber, meine ich, noch ein anderes Biest in Austen: eine Frau, die um die Leiden schaffende leidenschaftliche Liebe weiß und von dieser schreiben kann.

Leidenschaft bei Austen? Nicht mal ein Kuss wird beschrieben. Es sind aber auch keine körperlosen, gefühlsseligen Romantiker, die Austen uns vorstellt. Es sind Menschen, die um ihre Beschränkungen wissen, darum dass Armut jedes wahre Gefühl herabwürdigen kann, dass unvereinbare Moralvorstellungen und Lebensentwürfe auch die heftigsten Liebesschwüre nicht überwinden können. In kaum einem anderen Romanwerk dieser Zeit sind Frauen körperlich so bewegt. Elizabeth, Emma, Anne lieben ausgedehnte Spaziergänge, fühlen einen dauernden Drang ins Freie, wenn ein Regentag sie im Inneren der Häuser hält, rennen sie auf und ab wie Tiger im Käfig: wild beasts.  Der Vernunft, der sie sich unterwerfen, wird gehend und tanzend die Lust abgetrotzt. Doch trotz allem: Wenn Austens Heldinnen lieben, dann tun sie es entschieden und endgültig; sie verschenken ihr Herz, um es niemals zurück zu fordern. Doch zwingt sie die gesellschaftliche Konvention, die Heftigkeit ihres Fühlens fest in ihrem Busen zu verschließen; den Kopf zu senken, einen höflichen Knicks zu machen und sich niemals anmerken zu lassen, dass sie einem, einem einzigen nur sich verschrieben haben. Dieser Herzensneigung jedoch folgen sie mit einer Unbedingtheit, die sie jede andere Lebensperspektive ausschlagen lässt: diesen oder keinen.

Es passiert nicht viel in Austens Romanen. Ein paar Familien auf dem Land, heiratsfähige Töchter, mehr oder minder heiratswillige junge Männer in der Nachbarschaft, die Bildung „passender Partien“. Am Ende „kriegen sie sich.“ Immer.  Doch: Es kann nur EINEN geben. Alle Liebessehnsucht  ist nur auf den gerichtet. Und es geht darum, ihn erkennen zu lassen, dass es ihm eben so geht, denn er muss, so gebietet es die Konvention zuerst sein Herz und seine Hand anbieten , zuvor kann sie nicht raus aus ihrer Haut und sich ihm nicht hingeben. Alles läuft zu auf diese eine Unterredung, in der er sich erklärt und sie ihm gesteht.

Mir ist Anne Elliot aus „Persuasion“ die liebste von allen Heldinnen Austens, mehr noch als die witzige und charmante Elizabeth oder die sprühende Emma. Für mich ist Anne die leidenschaftlichste Frauenfigur, die Jane Austen geschaffen hat, gerade weil sie ihr unwandelbares Gefühl so entschlossen in sich verschließt.  

(Für jene, die „Persuasion“ nicht kennen, eine kurze Inhaltsangabe: Anne Elliot, jüngere Tochter von Sir Walter Elliot, schlägt als sehr junge Frau auf den Rat einer mütterlichen Freundin hin den Heiratsantrag des mittellosen Frederick Wentworth aus, den sie gleichwohl inbrünstig liebt. Tief gekränkt verlässt Wentworth sie. Jahre später begegnen sie sich wieder. Annes Vater hat inzwischen das Familienvermögen durchgebracht, hält aber an seinem Standesdünkel fest. Wentworth hingegen kommandiert als Kapitän sein eigenes Schiff und hat sich ein Vermögen erarbeitet. Er macht einer angeheirateten Verwandten von Anne den Hof. All die Jahre hat sie den Kummer über die verlorene Liebe unbemerkt von allen anderen mit sich getragen. Auch jetzt lässt sie sich nicht anmerken, wie sehr Wentworth´ Werben um die andere sie schmerzt. Doch schließlich erkennt auch er, dass es für ihn keine andere geben kann.)

Dieser Plot klingt kitschig, nicht wahr? Nun, es wird nicht kitschig dargestellt. Es ist wirklich herzzerreißend,  wenn Anne lächelnd dem munteren Flirten der jüngeren Kusine mit dem Mann, den sie immer lieben wird, zusieht. Kein Affekt könnte heftiger sein als der, den sie bleibend unterdrückt. 

Über die Meisterschaft Austens schrieb Virginia Woolf: „of all  great writers she is the most difficult to catch in the act of greatness.“ Das stimmt.  Wie Austen das Geschehen bis hin zur alles entscheidenden Unterredung entwickelt, das erscheint der Leserin so, als könne es gar nicht anders sein. Die Schnittkanten und Stiche, mit der die Autorin das zusammenfügt und aneinandernäht, sind so fein ausgeführt, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann. Doch auch ihr fiel es nicht zu. Wie sehr sie an der Perfektion der Erzählung arbeitete, erkennt man, wenn man ein verworfenes Kapitel von „Persuasion“ mit der endgültigen Fassung vergleicht. Es geht eben um jene alles entscheidende Szene. In der verworfenen Fassung begegnen sich Anne und Wentworth im Hause der Crofts. Mr. Croft lässt die beiden allein. Wentworth ist überzeugt, dass Anne der Verlobung mit einem Verehrer, den ihr Vater unterstützt, zugestimmt hat. Beiden fehlen zunächst die Worte. Dann durchbricht Wentworth das peinvolle Schweigen und es stürzt geradezu aus ihm heraus, das lang angestaute Gefühl. Die Angst, sie ein zweites Mal zu verlieren, lässt ihn sich verhaspeln und nach Atem ringen. Er muss wissen, ob sie sich für den anderen entschieden hat: „This is all, Madam. A very few words in reply from you will be sufficient. That I should be the person commisioned on this subject is extraordinary! And believe me, Madam, it is no less painful. A very few words, however, will put an end to the awkwardness and distress we may both be feeling.“ Anne weiß kaum, wie ihr geschieht. Denn verklausuliert und dennoch offenkundig hat er es endlich ausgesprochen: wie sehr er darunter leidet, sie mit einem anderen zu sehen,was bedeuten muss, dass er sie immer noch liebt.  Schließlich stellt sie klar: Es gibt keine Verlobung mit dem anderen. Er muss sich hinsetzen, dreht seinen Stuhl zu ihr und schaut sie an: „with an expression which had something more than penetration in it – something softer. Her countenance did not discourage. It was a silent but a very powerful dialogue; on his side supplication, on hers acceptance. Still a little nearer, and a hand taken and pressed, and ´Anne, my own dear Anne´ bursting forth in the fulness of exquisite feeling.-.“

Das ist gut. Gut inszeniert und geschrieben. Seine Atemlosigkeit, der aufgestaute Druck durch die lange Unterdrückung, der Passiv, den sie wählt, als sie die Berührung beschreibt: Sie „machen“ ihre Liebe nicht, sie geschieht ihnen.  Die unbedingte Liebe ist das Naturereignis unter den Vernunftmenschen. Austen brauchte dazu keine kitschige Beleuchtung oder poetischen Liebesbezeugungen. Doch sie war nicht zufrieden. Sie verwarf die Version. Denn sie hatte den Kern der „Überzeugung“ nicht getroffen, von der „Persuasion“ handelt. Es geht nicht um Eifersucht und Verlust des Geliebten, der Geliebten. Es geht darum, dass man seinen eigenen Gefühlen trauen kann. Darum, dass alles, alles sich ändern kann, die Umstände, die Haartracht, Armut oder Reichtum, Manieren und Moralvorstellungen, die Liebe aber bleibt, unerwidert, hoffnungslos, ohne Erwartung. Für dieses Ungeheuer, das Biest Liebe, mitten in der rationalisierten Welt, sucht Austen nach einer Ausdrucksform, die nicht kitschig und überhöhend ist: kein „Liebe als Religion“ oder „Liebe als Kunst“, Liebe pur. Und sie findet eine Form für diese „revolution...almost beyond expression.“:

Die Unterredung findet nicht statt. Zumindest nicht – zunächst nicht – zwischen den Liebenden. Anne steht am Fenster mit einem Freund, während Wentworth ein paar Schritte entfernt vorgeblich einen Brief schreibt, jedoch in Wahrheit den beiden lauscht. Sie reden über die Liebe der Seeleute und darüber, wer mehr leide unter den häufigen Trennungen und wer beständiger liebe: Frauen oder Männer. Anne ist höflich: „I hope I do justice to all that is felt by you and those who resembly you. God forbid that I should undervalue the warm and faithful feelings of any of my fellow creatures.“ Doch sie ist auch entschieden, worin ihr Geschlecht stärker ist: „All the privilege I claim for my own sex (it is not a very enviable one, you need no covet it) is that of loving longest, when existence or when hope is gone.“ Wenthworth hat das gehört. Er und der Freund verabschieden sich, doch: „but from him not a word, nor a look. He had passed out of the room without a look.“ Austen zeigt mit wenigen Worten noch einmal die Verzweiflung Annes, deren ganzes Leben auf das Erhaschen eines Blicks von ihm gesetzt ist.  Aber Wentworth kehrt allein zurück, gibt vor, einen Handschuh vergessen zu haben, und deponiert auf dem Schreibtisch einen Brief an Anne: „On the contents of that letter depended all which this world could do for her!“

Und er schreibt: „....I must speak to you by such means within my reach. You pierce my soul. I am half agony, half hope. ...I offer myself to you again with a heart even more your own, than when you almost broke it ... I have loved none but you. Unjust I may have been, weak and resentful I have been, but never inconstant. ...Have you not seen this?...“

Er geht, unsicher, ob sie seine Liebe (noch) erwidert. Austen hat das Zentrum von „Persuasion“  erreicht: die unbedingte Liebe, stärker als die Wahrscheinlichkeit, die Hoffnung, die Vernunft, stärker sogar als die Existenz, also auch als der Tod. Dass Anne so liebt, weiß die Leserin längst. Es ist er, der sich so ausliefern muss. Sprechend, hatte Austen erkannt, kann er das nicht. Er schreibt. Bis zum Äußersten gehen kann er nur in der Distanz.

Als sie sich wiedersehen, auf der Straße, und er anbietet, sie nach Hause zu begleiten, müssen sie nicht mehr sprechen: „There could be no objection. There could be only a most proper alacrity, a most obliging compliance for public view; and smiles reined in and spirits dancing in private rapture.“

Das „wilde Biest“: die unbedingte Liebe, die nichts zurück- oder vorhält. Sie muss sich nicht aussprechen in überbordenden Gesten, lauten Versen und Beschwörungen. Dies Biest wird nicht gezähmt durch strenge Benimmregeln und eine uns antiquiert erscheinende Sexualmoral. Sie erhöhen bloß den Druck, unter dem die Energie des Biestes stärker zu spüren ist. Was wir Befreiung nennen: sexuelle Freizügigkeit, Partnerschaften „auf Probe“, „Lebensabschnittsbeziehungen“ – ist im Grunde das, was das Biest „erlegt“. Sich immer nur unter Vorbehalt und mit Hintertürchen einzulassen, bringt uns ums „Äußerste“, das eben nicht in exzessiven Sexualpraktiken besteht, sondern in „Promises of eternity.“


Jane Austen: Persuasion (Wordsworth Collection, € 2,30)
Jane Austen: Anne Elliot oder die Kraft der Überredung (dtb, € 8,90)

Montag, 23. August 2010

UNTERREDUNG

Zwei gleichnamige Kupferstiche aus der Serie "Natürliche und affectierte Verhaltensweisen" von Daniel Chodowiecki waren der Ausgangspunkt für den zweiten Teil meiner Kolumne "Körper-Sprache" auf Michael Perkampus´ Blog  Veranda




Stich und Titel brachten mich darauf, noch einmal in die Werke meiner Lieblingsautorin Jane Austen zu schauen und jene "Unterredung" genauer unter die Lupe zu nehmen, auf die bei ihr alles hinausläuft (oder zu laufen scheint): das wechselseitige Eingeständnis der Liebe. Davon demnächst mehr.

Sonntag, 22. August 2010

Christoph Schlingensief ist tot

Er wird auch von vielen schmerzlich vermisst werden, die ihn, wie ich, nicht persönlich kannten.

Nachruf für Christoph Schlingensief in "Spex": "Mit ihm verbinde ich Mut."


Das letzte Interview: Über Schreiben. Und Halbwissen. Und Weitermachen. Die Stille der Nacht und kollektive Produktion. Gegen Purismus.


Ich glaube, es ist nicht übertrieben zu sagen: Er war der größte deutsche Künstler unserer Generation. Wir hätten ihn noch sehr gebraucht: Hier.

Online-Kondolenz-Buch: www.schlingensief.com