Donnerstag, 20. Januar 2011

PUNK PYGMALION (9:) RUNTERKOMMEN


Ich brauchte eine Weile, um Emmis und Ansgars Antworten auf meinen „Vergewaltigungsverdacht“ zu verdauen und mich weiter in die unsortierten Briefe Ansgars aus den 80er Jahren einzulesen, die Emmi mir im November in einem Schuhkarton auf den Schreibtisch gestellt hatte. Auch Emmis Verlangen, ich solle ihrer Geschichte mit Ansgar diesmal ein Happy End schreiben, belastet mich. Denn je mehr ich mich in diese Briefe einlese, desto mehr verstärkt sich das unheimliche Gefühl der Bedrohung. Gleichzeitig fühle ich mich schuldig, dass ich so empfinde. Die Briefe nämlich liefern, soweit ich sie bisher durchgesehen habe, keinen Hinweis darauf, dass Ansgar Emmi  je „etwas angetan“ hat. Am Telefon klingt Emmi, die seit Anfang Dezember wieder mit Ansgar zusammen ist, vielmehr so aufgewühlt und glücklich wie seit Jahren nicht. Ein wenig traurig war sie allerdings, dass sie Weihnachten nicht beisammen waren. Nach der Trennung von ihrem Mann war es Emmis erstes Weihnachtsfest als „Single“ (Kann ich sie noch so nennen, obwohl sie sich doch mit Ansgar so eng verbunden fühlt? Aber sie wohnen nicht zusammen und nehmen auch sonst am Alltagsleben des anderen nicht teil. Emmi kennt seine Freunde und seine Familie nicht; er nicht die ihren. „Die kurze Zeit, die wir gemeinsam haben, wenn er aus Kopenhagen kommt, wollen wir für uns sein.“, sagt Emmi.) Ansgar fuhr über Weihnachten zu seinem Sohn, Emmi zu ihrer Mutter. „Das war ein Rückschritt. Als wäre ich wieder Anfang zwanzig. Nächstes Jahr mache ich es anders.“ 

Der Brief, den ich heute einstellen will, ist vom Januar 1984.


Liebe Emmi,

gestern kam dein Brief und es war genau der richtige Moment, als ich nach Hause kam und ihn vom Boden aufhob. Ich hatte einen furchtbaren Tag und obwohl ich immer auf einen Brief von dir warte, gestern b r a u c h t e ich ihn unbedingt. Ich habe sofort angefangen, dir zu schreiben, aber als ich las, was ich geschrieben hatte, begriff ich, dass ich an mich selbst schrieb. Ich habe das verbrannt.

Was du über deinen Großvater schreibst, ist, glaube ich, auch so eine Art Selbstgespräch. Du hast mich lauschen lassen und ich sage dir, dass du kein schlechtes Gewissen haben musst. Du hast ihn als Kind geliebt und schämst dich nun dafür. Warum, Emmi? Er hat dir in seinen Armen Trost gegeben, nicht wahr, und du konntest nicht wissen, was seine Hände getan hatten. Wir sind eine Tier-Rasse, die den Schmerz der Anderen nur selten fühlen kann und das Leid, das wir ihnen zufügen, leicht vergisst. So ist es. Wir müssten die Pein eines anderen in unserem eigenen Körper spüren, erst dann könnten wir uns ändern. Meine verdammte Großmutter sagt, wenn der Krieg kommt, wird er Nichtnutze wie mich endlich zur Räson bringen. Fuck them!

Ich habe in letzter Zeit dauernd Ärger mit meinem Vater. Er kapiert nicht, dass ein Wirtschaftsstudium nichts für mich ist. Außerdem, glaube ich, will er meiner Mutter beweisen, dass er mich in den Griff kriegt, wo sie versagt hat. Dabei bin ich nur nach Kopenhagen gekommen, um dem Bund aus dem Weg zu gehen. Ich kann diese Show nicht dauernd durchziehen. Jetzt habe ich ihm gesagt, dass ich in eine Kommune ziehen werde und wie erwartet ist er ausgerastet. Er stellt sich vor, dass da alle dauernd bekifft rumhängen oder sogar Heroin spritzen und außerdem sind das natürlich alles Linke, die auf Kosten von anderen leben und große Sprüche klopfen und so weiter und so weiter.... Wenn ich also dort einziehe, streicht er mir das Geld. Wir streiten jedes Mal rum, wenn wir uns sehen und hinterher rauche ich dann Gras, um mich zu betäuben. Aber es macht alles nur noch schlimmer, jedenfalls, wenn man es so übertreibt, wie ich in den letzten Wochen. Ich muss den Kopf klar haben, um eine Entscheidung zu treffen: Schluss mit dem Studium und mit meinem Vater und seinem Geld. Surrealistische Träume und Kindheitserinnerungen sind genau das, was ich jetzt nicht brauchen kann.

Genug von dem Scheiß! Ich war vorgestern bei einem Punk-Konzert, sechs Stunden Pogo und hinterher hatte ich Kopfschmerzen, dass es knallt. Da war auch eine deutsche Punk-Gruppe, die „Siegfried kämpft“ heißt, hast Du von denen mal gehört? Gute Musik, aber ich fürchte politisch voll daneben. Uns wurde auch Speed angeboten, aber mir hat schon der Alkohol gereicht...Die Musik insgesamt war sehr aggressiv, manchmal fast paranoid. Daher die Kopfschmerzen. Mein Freund und ich überlegten die ganze Zeit, ob wir bleiben und irre werden sollten oder weg rennen... Wir blieben. Meiner Laune hat es nicht gut getan.

Ich will dich nicht drängen, Emmi, aber du verstehst doch, dass du dieses Frühjahr kommen musst, oder? Bitte schreib mir, was du vorhast, damit wir zusammen etwas planen können. Ich schreibe dir zum Schluss noch ein paar Zeilen aus einem Song von David Bowie raus:

I´ll never done good things,
I´ll never done bad things,
I´ve never done anything out of the blue,
I want an axe to break the ice
I want to come down right now


ICH WILL DICH BERÜHREN, Emmi, fühlst du das? Schreib mir bald. Ich brauche Dich.

Ansgar     

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