Mittwoch, 28. September 2011

MEER UND LEER

„Sie ist wach und sie freut sich.“ Elke öffnete die Tür zu Judiths Wohnung für Manuela. Sie legte ihr zur Begrüßung kurz die Hand auf den Arm und wandte sich dann ab, um die Freundin ins Wohnzimmer zu führen. Dort war die Sitzgruppe beiseite gerückt, um einem Krankenhausbett mit fahrbarem Gestell und Gestänge für die Infusionen Platz zu machen. Wie eine Manga-Zeichnung mit riesigen Augen lag Judiths bleiches Gesicht auf dem weißen Kissen. Manuela gab sich einen Ruck, trat an Elke vorbei und setzte sich auf die Bettkante. „Lässt du uns allein?“ Elke suchte Judiths Blick. „Bitte.“ Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

„Ich bin froh, dass Elke bei dir ist.“
„Ja.“
„Nichts habe ich davon gewusst, dass du so krank bist...“
„Du warst sehr böse auf mich. Und mit Grund. Aber es war auch wahr, was ich sagte. Das war es ja.“
„Wenn ich geahnt hätte...“
Judith hob einen Finger an die Lippen.
„Egal jetzt. Wir haben nicht mehr viel Zeit.“
Manuela hob ihre Tasche aufs Bett und zog einen großen Umschlag heraus.
„Deine Briefe. Und das Märchen-Heft, das du für mich geschrieben hast.“
„O Gott.“, Judith versuchte zu lachen; es blubberte in ihrem Bauch bis hoch zum Hals, doch hatte sie nicht mehr die Kraft, es aus der Kehle zu lassen.
„Sie bedeuten mir viel. Selbst der letzte, als du mir schriebst, du habest dich entschieden. Für ihn.“
„Dein feuriger Blick auf meinen Schultern. Dein schwarzes Haar zwischen meinen Fingern.“
„Es war nie vorbei. Fünfundzwanzig Jahre lang. Nun hast du ihn fortgeschickt, wegen Elke?“
„Nicht für Elke. Für mich. Ich habe keine Kraft mehr, die Trauer, die er fühlt, für ihn auszudrücken.“
„Ach, Judith, dein Märchenprinz...“
Judith rückte ein wenig zur Seite. Manuela verstand, streifte die Ballerinas ab und legte sich dicht neben sie, schmiegte ihren Körper an den der Freundin, die ihren Kopf in ihre Armkuhle drückte. Wie ein Vögelchen, so leicht und zerbrechlich fühlte Judith sich an.

„Lies mir vor. Das Märchen vom Schloss am Meer.“
Manuela sah Judith in die Augen.
„Das schriebst du kurz bevor er auftauchte.“
„Genau das.“
Manuela zog ein Schulschreibheft aus dem dicken Umschlag und schlug es auf.

Hoch oben auf den weißen Klippen, umgeben vom immergrünen Gras stand düster das Schloss. Aus seinen toten Fenstern starrte es blind hinab aufs Meer, das mal sanft in weichen Wellen an den sandigen Strand ebbte, mal tobend gegen die Kreidefelsen schlug. Die Gemäuer waren von Efeu überwuchert, die Beete der Gärten verwüstet, die Mäuerchen eingefallen, die Türen quietschten in den Angeln. Jahrzehnte war es her, dass zuletzt ein Wanderer die Gebirge auf dem Landweg überwunden oder ein Seefahrer übers Meer den natürlichen Hafen zwischen den Klippen angesteuert hatte, um in den dunklen Hallen seine Aufwartung zu machen.

Es ging in den Hafenkneipen die Mär um von diesem schaurigen Ort und auch in den Gasthäusern an den Landstraßen wurde erzählt vom grauen Schloss am Meer, in dessen verblichener Pracht zwei Skelette einander umklammerten, in ewig unerfüllter Liebe vereint.

Einst hatte, so hieß es, das Schloss noch weiß und prächtig auf dem Felsen gestanden, einladend hätten sich seine Türen den Gästen in ihren prachtvollen Roben geöffnet, wenn die Schlossherrin ihre rauschenden Feste gab. Von unvorstellbarer Schönheit sei sie gewesen, seidig hätten sich die Locken um ihr liebliches Antlitz gelegt und mit blitzenden Augen habe sie Frauen und Männer becirct, die ihrem Gesang hingebungsvoll lauschten. Einem jeden und einer jeden sei sie mit Achtung und Liebe begegnet, habe Aufmerksamkeit und Freude verschenkt, Lust und Lachen gegeben.

Eines Tages aber, so geht die Legende, sei über den weißen Sand ein Prinz geritten. Keiner habe gesehen, von welchem Schiff er an Land gegangen sei oder über welche Straßen er das Schloss am Meer gefunden habe. Sein schwarzer Hengst sei das schönste Pferd gewesen, das je gesehen ward, so wie sein Herr der schönste Mann gewesen sei, den sich die Herrin des Schlosses habe erfinden können. Er habe, so stellte er sich vor, von ihrer Schönheit, ihrer Güte, ihrer Großzügigkeit gehört und sich nicht enthalten können, herzukommen und sie mit eigenen Augen zu sehen. Was er aber nun sehe, überträfe noch alle Erzählungen, denen er gelauscht habe. Sie schwieg und lächelte und schlug die Augen nieder, so freute sie sich. Nie hatte sie von ihm gehört, doch in vielen stillen Nächten von ihm geträumt. Es gab keinen Zweifel, dass sie einander gehören sollten von nun an bis ans Ende aller Tage, fühlte sie. Sie versprachen einander die ewige Liebe und wildtrunkene Küsse besiegelten ihre Verlobung.

Am nächsten Morgen sattelte er sein Pferd. Noch einmal hielt er sie fest in seinen Armen und beschwor ihre Treue. Sie drückte ihm die heißen Lippen auf und ihre Tränen brannten auf seiner Zunge. Lang sah sie ihm nach, als längst schon die Silhouette des dunklen Reiters am Horizont verschwunden war. Dann stieg sie die Treppen hinauf, sah zum letzten Mal hinab aufs Meer, trat über die Schwelle und setzte sich, um zu warten. Still hielt sie die Hände im Schoß verschränkt.

Ihre Liebe war stolz und treu. Sie wartete. Als man sich fragte, wer der Fremde gewesen sei und ob er wiederkäme, wies sie die Fragenden hinaus. Als man sie bedauerte, dass sie einem Betrüger aufgesessen sei, verschloss sie die Türen. Als die Jahre vergingen und sich Falten in ihren Hals gruben, verharrte sie in ihrem Glauben an seine Rückkehr. Als längst sich keiner mehr erinnerte an den Besuch des Schönen, strich sie sanft mit der Hand über ihre grauen Flechten und sang der Erinnerung an ihn ein Lied. Sie kannte nicht seinen Namen, noch seine Heimat, sie ahnte nicht, was ihn fernhielt all die Jahre, die sie verging. Sie wartete.

Die weißen Mauern des Schlosses wurden grau wie ihr Haar. Staub kroch in ihre Röcke und legte sich auf ihre Wangen. Spinnweben schlangen sich um ihre Füße und Arme. Die Haut spannte faltig zwischen den Knochen. Das Blut in den Adern floss langsamer. Ihre Brust hob und senkte sich seltener. Bis alles zum Stillstand kam und verfiel. Sie saß und wartete. Aufrecht drückte sich das Rückgrat gegen die Lehne, auf dem Halswirbel ruhte stolz wie je das skelettierte Haupt.

So fand er sie, als er schließlich, alt und gebeugt, auf zerrissenen Sohlen zurückkehrte nach Haus. Seine Abenteuer waren unzählbar und längst vergessen. Immer hatte die Sehnsucht ihn getrieben nach ihr, zu ihr. Als er ankam, wurde er ihrer Treue gewahr und sank zu ihren Füßen. So verharrte er, bis Staub und Weben sich auch über ihn legten. Die Liebe währet ewiglich, hatte er geschworen.

Kalt strich der Wind durch die leeren Mauern und ließ die Türen in den Angeln knarren. Starr lag das Schloss über dem Meer und barg die Liebenden immerdar. So erzählten sie draußen in den Schenken und Spelunken, wenn heißer Grog ausgeschenkt wurde in den frostigen Wintern.

Ganz leis kicherte Judith.
„Was für eine elende Romantikerin ich war.“
„Bist.“
Manuelas Hand strich scheu über Judiths Hüften.
„Dass du gehen wirst, ohne dass wir...“
Judith hielt ihre Hand fest.
„Dazu reicht es nicht mehr. Ich liebe dich - immerdar.“
„Ich will kein Märchenprinz sein.“
„Das warst du auch nie. Ich habe nicht gewartet. Ich nahm ihn.“
„Kein Frosch.“
„Nein. Es waren gute Jahre.“
Sie schwiegen und hielten sich fest.

Elke, die im Türrahmen stand und lauschte, rannen die Tränen übers Gesicht. Fuck. Sie dachte es nur. Ihr Mobile klingelte. Der Tätowierte. Mein Prinz. Fuck you.

__________________________
8. Fortsetzung von Frauensachen


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen