Markus A. Hediger schrieb im Kommentar zu DIE MACHT DER PERSPEKTIVE : "@MelusineB: Wie deutest du dann Matthäus 5.17ff? (Und zu deinem Nachtrag am Ende des Hauptbeitrags: Dann willst du auch einen verfälschten Gott, einen Gott, der deiner Perspektive gerecht wird?)" Eine Deutung der Bergpredigt, wie vorläufig, laienhaft und fragmentarisch auch immer, sprengt den Rahmen, den die Kommentarfunktion zulässt. Daher antworte ich hier:
Lieber Markus,
fair ist das nicht, mir so en passant eine Deutung der Bergpredigt abzuverlangen. Du weißt ja sicher (und viel besser als ich!), wer sich daran schon alles versucht hat und zu wie unterschiedlichen Ergebnissen wesentlich bedeutendere Geister gekommen sind. Gut, ich habe mich aus dem Fenster gelehnt. Das gebe ich zu. Und mich damit wieder einmal dahin gebracht, wohin ich immer – gut protestantisch – gerate: in den Rechtfertigungszwang.
Im Matthäus-Evangelium (5, 17ff) spricht Jesus: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten außer Kraft zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um außer Kraft zu setzen, sondern um zu erfüllen. Denn ich sage euch: Solange Himmel und Erde nicht vergehen, wird auch kein einziger Buchstabe und nicht ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen; alles muss sich erfüllen. Wer darum eines dieser Gebote – und wäre es das geringste – für ungültig erklärt und die Menschen in diesem Sinn lehrt, der gilt im Himmelreich als der Geringste.«
Er ist gekommen um es zu erfüllen. Weil wir es nicht erfüllen können. „Alles muss sich erfüllen.“ --- Es erfüllt sich im Glauben an ihn. Ich habe nicht bestritten, dass die Gesetze gelten. Sondern dass sie uns gelten, um sie zu erfüllen. Sie gelten uns, um uns zu orientieren. Es gibt kein richtiges Bild von Gott: das gilt. Aber es gibt keinen Menschen, der sich kein Bild macht (ob von Gott oder anderem, denn – denk dran – das Verbot verbietet nicht nur das Abbilden Gottes!) „Wenn euer Leben der Gerechtigkeit Gottes nicht besser entspricht, als das der Schriftgelehrten und Pharisäer werdet ihr mit Sicherheit nicht ins Himmelreich kommen.“ Werden wir nicht. Lies, wie er fortfährt. Er bezieht sich jetzt auf die „lebensweltlichen Gesetze“ (Dekalog 4-10), also jene, die das Verhältnis der Menschen zueinander regeln. Man möchte meinen, immerhin die wären doch – wenn wir schon mit Gott nicht ins Reine kommen könnten – zu erfüllen. Aber: was sagt er: „Jeder, der auf seinen Bruder zornig ist, gehört vor Gericht. Wer zu seinem Bruder sagt: ›Du Dummkopf‹, der gehört vor den Hohen Rat. Und wer zu ihm sagt: ›Du Idiot‹, der gehört ins Feuer der Hölle.“ Zeig mir einen, der noch nie auf einen anderen zornig war. Nur einen oder eine. Und weiter geht´s mit dem Ehebruch: „Jeder, der eine Frau mit begehrlichem Blick ansieht, hat damit in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Ich könnte mich hier aus der Affäre stehlen, weil das im Kontext ganz offensichtlich auf heterosexuelle Männer bezogen ist. Aber ich räume freimütig ein: Auch ich schaue mit begehrlichem Blick auf Frauen, die nicht die meinen sind.) Dann geht es um das Verbot zu lügen. Wittgenstein pur: Wovon man nicht reden kann, davon soll man schweigen. (Alle deine Metaphern, Markus, wären verboten!) Und schließlich die völlige Überforderung: Deine Feinde zu lieben. Erklär du mir, wie das Gesetz, so ausgelegt, wie er es tut, erfüllt werden soll durch uns. Die ganze Rede dient dazu, uns verstehen zu lassen, dass wir versagen. Anders kann ich sie nicht verstehen. Denn wenn ich auch mein Handeln kontrollieren kann (und glaub mir, darum bemühe ich mich aufrichtig), so kann ich doch die Gedanken und Gefühle nicht beherrschen.
„Ihr aber sollt vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Wie kann das sein? Wir – vollkommen? Wir sind vollkommen nur in seinem Blick, verstehst du? Als von ihm Geliebte. Anders nicht. Und durch diese Liebe sind wir gebunden, uns an der Vollkommenheit zu orientieren. Nicht mehr, weil wir ängstlich Gesetze befolgen, sondern weil wir in seinem Blick „gut“ sein wollen, so gut als möglich. Und wo wir nun doch versagen, heilt seine Liebe unsere Unvollkommenheit. Diese Liebe vergibt gnädig, dass wir nicht so sein können, wie wir sein sollten. Dennoch ist es keine „billige Gnade“, denn der Preis, um den sie gewährt wird, ist die Einsicht in unsere Unvollkommenheit, der harte und ungeschönte Blick auf unser Versagen.
Du hast mich sehr weit getrieben, mich hier zu bekennen. Niemals in meinem nicht virtuellen Leben sagte ich das laut, was ich oben schrieb. Das ist mein Geheimnis. Sorgsam gehütet. Denn ich bin brav. (Ich sagte das schon mal, aber ich denke, du glaubtest mir nicht.) Wenn es ums Handeln allein ginge, dann könnte ich getrost sagen: Die „lebensweltlichen“ Gesetze, wenn man sie nicht zu eng auslegt, erfülle ich weitgehend. Aber lege es im Sinne der Bergpredigt aus und du könntest mich beim Bruch eines jeden dieser Gesetze ertappen. (Nun du nicht, nur ich mich selbst, nicht wahr?)
Du fragtest mich, wie ich Matthäus 5,17f auslege. Und brav habe ich geantwortet. Schreibend von unterwegs auf meinen Arbeitswegen, das Laptop auf den Knien, den Text der Luther-Bibel aus dem Netz herunter ladend,vorläufig, so wie ich es jetzt glaube. Ich kann dir nur antworten, wie ich mir den Text auslege. Ich trete nicht missionarisch auf. Ich erkenne ohne Weiteres, dass das Verlangen so geliebt und geheilt zu werden, eben mein ganz persönliches ist, nicht zwingend eines, das irgendjemand teilt und daher auch die Auslegung, die ich mir zurecht lege, nur eine Projektion meiner Wünsche sein kann und wahrscheinlich ist. (Man könnte mir auch mit einer Psychoanalyse kommen, oder? )
Am vorvergangenen Sonntag sprach ich lange mit einer Freundin darüber. Sie, die aus Persien stammt, trägt andere Prägungen mit sich. Wir waren uns einig (korrigiere mich, Azar, wenn du das liest und es dir falsch erscheint), dass wir in der Tat, wenn wir uns nicht taub stellen und innerlich verhärten, immer getrieben sind, uns und die Welt an einem „Soll-Zustand“ zu messen, also der Wirklichkeit ein Anderes, ein Ideal gegenüber zu stellen. Während ich jedoch die Tatsache, dass Sein und Sollen niemals zur Deckung gebracht werden können, als Versagen empfinde, erfreut sich Azar der Fähigkeit, die ihr verliehen wurde, auch der Fähigkeit, mit den Widersprüchen zu leben und sie zu ertragen. Ohne ein schlechtes Gewissen. Wer sich bemüht, muss keines haben, empfindet sie. Und ich beneide sie um diesen Froh-Sinn, den meine protetantische „Seele“ nicht dauerhaft findet.
Doch geben mir – neben Musik und Literatur – vor allem die Bilder immer wieder solche Stunden frohen Sinns. Jene Bilder, die man – befolgte man das Gebot vom Sinai seinem Wortlaut nach - nicht schauen darf, die verfälschend eine Welt abbilden, wie der Einzelne sie sehen kann und mag, eine Welt, in der seine Subjektivität sich bestätigt und seine unbeschädigte Phantasie eine Wahrheit entwirft, die einzig hier gilt: im von ihm geschaffenen Bild. Ja, das will ich.
(Dagegen, Markus, ist die Frage, ob und wie ich Gott will, doch gänzlich ohne Sinn: Weil es für ihn, falls es ihn gibt, ganz ohne Belang ist, wie ich ihn entwerfe und umgekehrt für mich gar nichts anderes möglich ist, als mir ein Bild zu entwerfen. Ob ich ihm gerecht werde, was mag ihn das scheren? Mein Bild – und mehr werde ich nie „haben“ – kann ja niemand anderem gerecht werden als mir. Allenfalls, um dem zu entgehen, könnte ich Autoritäten folgen. Welche schlägst du vor? – Nun, ich würde ohnehin nicht folgen, weil ich nicht folgsam sein will. Weil ich es für den Fortschritt überhaupt halte, die Subjektivität ins Recht zu setzen gegen alle Autorität. Darum ist immer wieder zu ringen. Denn neue Autoritäten erheben stets neue Absolutheitsansprüche. Auch die Perspektive, die als Bildsprache ursprünglich der Subjektivität einen Bildraum verschaffte, musste daher von den modernen Künstlern wieder auf ihre Grenzen hin befragt werden.)
Du fragst mich fast wie ein Inquisitor. Und ein bisschen fühlt sich das auch an wie Folter. (Du selbst bist mir Antworten schuldig geblieben. Weißt du noch, dass du mir die Heiligen erklären wolltest?)
Herzliche Grüße
(mit dem falschen Namen mag ich dies nicht zeichnen)