Samstag, 11. September 2010

ZUG UM ZUG (5): AUF DEM ABSTELLGLEIS (1994/95)

Das war dann ausrangiert. Auf ein Abstellgleis. Hat es sich weggestellt. War einmal ein Körper, der Ich war, der war nicht das Andere, war immer ich, das denkt. Hat sich nicht gehabt, sondern ist gewesen. So war das. Im Spiegel das nackte Abbild sah sie gern, sagt sich Du und Hallo. Ganz gewiss ist die sich, das Ich und Du eins sind und sich fühlen, das heißt die Zehen spreizen. Dann zerspringt. Der Spiegel und Du und Ich. Es wandelt sich in ein Gefäß, das versagt. Kann sich nicht lieben. Liebt nur noch das Andere, das ich nicht ist. Ein Wille versucht zu herrschen. Doch Du entziehst dich und es zerplatzt. Keine Scherben. Nur Blut und Tränen und Schleim und das Gefühl. Das Ich nicht ist.

Das ging noch einmal gut. Ein Knabe lag in ihren Armen. Verwundet zwar. Schwer keuchend, fast erstickt. Sie hält ihn fest. Hält sich fest an dem. Der Kopf denkt. Die Brust tropft. Der Mund küsst. Die Hand hält. Funktionsfähigkeit wird geprüft. Wiederherstellung des Systems. Infusion. Blutstillung. Nahtstelle. Wundbrand. Vernarbung.

Der Zug rollt weiter. Es und Du und Ich und Knabe fahren mit. Wenn der trank an ihrer Brust, der kleine Mund um die Warze sich schloss und anfing saugte, rhythmisch und gewiss, dann fühlte sie sich. Im Erker saß sie, auf dem Schaukelstuhl, das Kind in den Armen, wiegte sich und den und Ich und Du. Die Blätter am Baum vor dem Fenster wuchsen  grün sich aus und glänzten silbrig in der Sonne und wehten im Wind und fielen golden zu Boden. Mit ihr. Am Boden lag sie und auf ihr der Knabe, den Kopf zur Seite gelegt, ihr Mund in seinem spärlichen Haar. Wer bin ich? Ich bin, die dich liebt. Und im Herbst, als die Bäume sich rot färbten vor dem Fenster, an dem sie im Schaukelstuhl saß und sich wiegte und den Knaben, regte sich in ihrem Leib eine zweite Frucht und eine Furcht. Der Zug rollt. Stell dich taub.  Die Wunde „heilt der Speer nur, der sie schlug.“ Im Tunnel.

Freitag, 10. September 2010

GEIST DER ZEIT

von Tone Boss

Hätte ich nur vor der Zeit gesucht, die Welt wäre mir in den Schoß gefallen. Doch das verdammte heimleuchtende Lamm der Welt wandte sich in deinen letzten Tagen ab. So hatte ich nur die Dunkelheit, meinen Weg zu finden. Dich zu finden. Ich rannte aus der Zeit und schon warst du gegangen, mein trauriger Engel. Da richtete ich mein Verlangen auf den Horizont. Allein und müde. Ich schaute auf meinen von  Kriegen zerrütteten Staat und dort in den Oasen, auf die mein Blick fiel, sah ich Alles. Dort wartete schon die Stadt der Träume am Abgrund: an meinen Himmel geheftet wie die Morgendämmerung an die Nacht. Das ganze verdammte Königreich wartete. Weit in der Ferne spiegelte sich in den Glasfassaden der aufragenden Wolkenkratzer das Licht der Sonne. Wie ein Wunder stand  ich gezeichnet gegen das Licht, ausgespuckt aus den wild faulenden Ausscheidungen der grünbösen Träume meiner Jugend und verliehen an die diamantene Nacht der Stadt.

Mein Herz raste und flach atmend erreichte ich das reflektierende Neonlicht. Mit neu gewonnener Stärke und Zuversicht schleppte ich meine schwere Seele weiter und weiter und weiter. Ein Bild von allem, was hätte sein können und hätte sein sollen, stand vor mir auf.  Oh, welche Freude, die ich nicht fand, welche Infusion porzellanen Atems in meine Adern. Die Zeit des Schwelgens hatte mehr oder weniger begonnen, die Epoche des Saturn. Die Nymphen waren angekommen und ich konnte ihr ach so feines Lächeln viele Meilen entfernt noch sehen: Zeit zu spielen, Zeit ausgelassen zu sein, meine lieben Freunde. Ich wandte mich um, schaute in das endlose Dunkel zurück, das weiter und weiter und weiter sich ausdehnte. Tränen flossen, weil Nichts ungeschehen sein konnte, egal wie pur oder wie genial. Die Reformation war gescheitert. Es war Zeit für die Revolution. Zeit, nach vorne zu sehen. Die Macht der Verlassenen war nicht nur erschienen, sondern vereinigte sich mit der Lust. Glitzernde Paraden. Die Freude der Tobenden. Im Angesicht dieser diamantenen Nacht war er wieder ungebändigt und unbezwingbar geworden. Und wie trunken vereinigte er sich erneut mit der Strahlung. Minuten später in der Umarmung einer glänzenden nackten Nymphe, auf der Höhe seiner Fantasie hatte er grundlos den einen erschütternden, einfachen Gedanken: „Für wie lange diesmal, verdammt, für wie lange dieses Mal...“

Time out

(aus dem Englischen, übersetzt von M.B.)

Donnerstag, 9. September 2010

SCHULD IST IMMER DIE MUTTER!


Ein Treffen mit guten Freunden zum letzten Grillen in diesem Sommer. Während wir die Steaks genießen, unterhalten wir uns über Klassiker des Horror-Film-Genres. Wir sind uns schnell einig, dass Splatter-Filme meistens eher komisch wirken und den größten Schrecken verursacht, was man nicht sieht. „´The nigth of the hunter´, der macht mir am meisten Angst.“, sagt G. Das ist das Stichwort. Alle kennen den Film. „Und zum Schluss auch noch die großartige Lilian Gish.“ „Was, die spielt auch mit?“ „Ja, am Ende, die Frau, die die Kinder bei sich aufnimmt. Die so engelsgleich gut ist.“ „Ja, ich erinnere mich.“ „Aber es wird auch gesagt, wisst ihr noch, dass sie ihren eigenen Jungen schlecht behandelte, dass sie von dem nichts wissen wollte.“ „Genau. Und das ist natürlich Robert Mitchum, der Killer.“ „Der so unheimlich ums Haus schleicht.“ „Mitten im Paradies brütete die Hölle.“ „Was für ein Film.“

Die Jung-Männer am anderen Ende des Tisches, nahmen wir an, hatten das Gespräch ignoriert. Filme, die älter als 10 Jahre sind, finden sie uninteressant. Dass es Leute gibt, die freiwillig Schwarzweiß-Filme schauen, erscheint ihnen wunderlich. Um so überraschender am nächsten Tag, als der Mastermind in mein "Büro" (dieser unbeheizbare Arbeitsplatz, den ich mir in der ehemaligen Loggia eingerichtet habe) stürmt und ruft: „Hör mal zu, ich sollte zu dem komischen Bild hier eine Kurzgeschichte schreiben, also die fängt so an: ´Vor dem Haus stand eine Kiste aus Lerchenholz, die....´“ „Ich schreibe grade ein Gutachten. Lass mich den Absatz noch fertig schreiben, ich komm sonst völlig raus.“ „Jetzt hör doch mal zu: ´Vor dem Haus...´“ „Den einen Absatz, bitte...“ Ich bin schon ganz genervt. „Vor dem Haus...“ „Raus jetzt, ja. Ich komm dann zu dir rüber, wenn...“ Und da kommt es. „Du weißt schon“, sagt er in scharfem Ton, „wenn die eigene Mutter so abweisend ist und sich nicht kümmert, ruckzuck wird man dann zum Serienmörder.“ „Was?“ „Wie der Kerl in dem Film, der Kinderkiller, du weißt schon, in „The night of the dingens...“ Zugehört hat er und was gelernt: Die Mutter ist immer schuld. Immer.

September 2010, Fehler und ungelöste Aufgaben

Mittwoch, 8. September 2010

PAARE. Keine Passanten


(Not) Just Married


Mr. and Mrs. Darcy
Lebten sie "happily ever after"? Jane Austen suggeriert es auf den letzten drei Seiten von "Pride & Prejudice". Elizabeth sucht die Versöhnung auch mit den Gegenspielern ihrer Liebe zu Darcy und er, dessen hochfahrenden Stolz ihre Liebe zähmte, lässt sich darauf ein. 

Aber: aufgepasst. Tatsächlich begegnen uns nur wenige glückliche Ehepaare in der Literatur. Der "Plot" des klassischen Liebesromans der bürgerlichen Epoche endet mit dem Eheversprechen. Wie und ob es gelingt, das Versprechen zu halten und dabei ein gelingendes Leben zu führen, in dem sich nicht bewahrheitet, was Oscar Wildes Aphorimus behauptet: "Die Ehe ist Freiheitsberaubung im gegenseitigen Einvernehmen.", davon erzählen nur wenige literarische Werke. Mir fallen stattdessen die tragischen Ehebruchserzählungen ein, in denen meist die Frau mit dem Leben bezahlt (Anna Karenina, Emma Bovary, Effi Briest). 

Auch in Jane Austens Romanen sind die meisten langjährigen Ehepaare kaum als glücklich zu bezeichnen. Elizabeth Bennets Eltern, denen es in jeder Hinsicht am gegenseitigen Respekt fehlt, sind die Karikatur einer solchen misslingenden und tatsächlich tragischen Fehlbindung. Der Missgriff in der Liebe hindert die im bürgerlichen Ehevertrag Gebundenen für immer, sich selbst gerecht zu werden. Niemand findet härtere Worte gegen das Vertrags- und Eigentumsrecht, dem die bürgerliche Ehe die Liebesbindung unterwirft, als Adorno in "Minima moralia": "Hegels Dialektik von Herr und Knecht gilt nach wie vor in der archaischen Ordnung des Hauses und wird verstärkt, wenn die Frau verbissen an dem Anachronismus festhält. (Anmerkung: Wir müssen feststellen, dass der Herr Adorno die Verbissenheit, mit der Vertreter seines eigenen Geschlecht hieran festzuhalten wünschen, nun ja, sagen wir: übersieht. Auch Theodor W. selbst, der gern jungen Frauen tief in die Augen sah und an die Brüste fasste, erwartete von Frau Gretel sexuelle Treue.) Als verdrängte Matriarchin wird sie dort gerade zum Meister, wo sie dienen muss, und der Patriarch braucht nur als solcher zu erscheinen, um Karikatur zu sein." Man könnte meinen, diese Verhältnisse hätten wir überwunden. Mir scheint das ein eher oberflächlicher Blick. Noch immer, spätestens wenn Paare Kinder haben, fallen sie zurück in die Rollenschemata, die dem zugrunde liegen: die Frau dient der Familie im Haus (überwiegend und verantwortlich) und der Mann dient ihr außer Haus, indem er für die materielle Grundlage sorgt (überwiegend und verantwortlich). Es gibt Ausnahmen; es gibt Verschiebungen. Es bleibt dies für die Mehrheit weiterhin das Grundmodell. Denn es gilt auch immer noch Adornos Satz: "Keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft." 

Heutzutage jedoch erweist sich das Grundmodell als immer instabiler. Denn die Vertragsehe als geschäftliche Zweckgemeinschaft wird - seit Jane Austen und auch durch sie - aufgeladen mit dem Verlangen auch eine Liebesgemeinschaft zu sein. Das ist relativ neu. Lange genug war Heiraten im Wesentlichen ein Geschäft zwischen Männern, Vätern und künftigen Ehemännern, bei denen die Frau hatte oder vorstellen konnte, "was nach den Bedingungen des männlichen Geschäfts, der männlichen Politik und Fortpflanzungspolitik nötig oder wünschenswert" (Klaus Theweleit) war. 

Viele hoffen offenbar dem Paradox einer Liebe, die im Moment die Ewigkeit beschwört (und dieses Ewigkeitsversprechen in der Gestalt der Ehe auszudrücken versucht) zu entkommen, indem sie es aufgeben: Keine Liebe währet ewig. Weiß ich, wie ich mich morgen fühle? Kann ich Gefühle versprechen? Das Zeitalter der "Lebensabschnittspartnerschaften" ist angebrochen. Serielle Monogamie nennt man das wohl im Soziologendeutsch. Man baut von vornherein Sicherungen ein: Die eigene Karriere nicht aus dem Blick verlieren. Sich einen eigenen Freundeskreis erhalten. Immer bedenken: Es kann alles schief gehen. Ja, das rate ich meinen Söhnen auch. (Hätte ich eine Tochter, fielen meine Warnungen vielleicht noch schärfer aus.) Solange wir in Verhältnissen leben, in denen die Ehe (auch) eine Geschäftsverbindung ist (und wahrscheinlich werden wir immer irgendeine Form vertraglicher Regelung brauchen, sobald Kinder da sind), muss man sich rückversichern. Geschäfte sind so.

Liebe aber nicht. Wenn es Liebe ist, dann kann man sich nicht versichern. Da gibt es keinen Rück- und Ausweg. Man verliert sein Herz, sagt eine abgenutzte Metapher. Das ist ernst zu nehmen. Wer liebt, gibt etwas her und hin: sich. Das kann sie nicht einfach zurückfordern und weitergehen.

"Wer so ganz in Herz und Sinnen
könnt ein Wesen lieb gewinnen,
o´den tröstet´s nicht,
das für Freuden, die verloren
neue werden neu geboren
Diese sind´s doch nicht."

(Karoline von Günderode: Die eine Klage)

Wer sich in der Liebe rückversichert, die, glaube ich, bringt sich um "alles". Man kann auch alles verlieren. Das ist ein Unglück. Ein verunglücktes Leben. Denn wer liebt, fühlt doch wie Hölderlin:

"Trennen wollten wir uns, wähnten es gut und klug;
Da wir´s taten, warum schröckt´ uns,  wie Mord, die Tat?
Ach! Wir kennen uns wenig,
Denn es waltet ein Gott in uns."

Wer liebt, muss sich fürchten. Denn sie weiß, dass sie ausgesetzt ist: der Möglichkeit zu versagen. Dass die Liebe dem Alltag nicht standhält. Dass die Komik, die alle alten Paare ausstrahlen, zur Lächerlichkeit wird. Dass die Fähigkeit, im Unähnlichen immer wieder das Ähnliche zu entdecken, sich erschöpft. Sie weiß auch, dass sie nicht wird sagen können: neues Spiel, neues Glück. In unserer Zeit wird eine, die so liebt, allzu gern eine Therapie anempfohlen:

"Denn er sei mit einer Art von Entsetzen gefragt worden, wie denn er sich habe einlassen können auf einen anderen Menschen so ganz und gar, ohne einen Teil der eigenen Person in einem Versteck zu halten, worauf er schon aus Verständigkeit zugestanden habe, er sei in der Tat auf der Strecke geblieben mit seinem Entwurf von Liebe sonder Vorbehalt - dies ohne daß er sich habe überwinden können, seine Eideshelfer, von PLATO bis BLOCH, im Ernst zu verklagen, da zumindest der eine von ihnen eine Erfahrung vorzutragen scheine."
(Uwe Johnson: Skizze eines Verunglückten)

Ich will nicht schließen mit den Verunglückten. Es kann gelingen. Garantien gibt es nicht. Keine Rückversicherung für die Liebe. Aber: das Prinzip Hoffnung. Ein glückliches Paar zeigt uns sogar Jane Austen in ihrem letzen Roman "Persuasion": Admiral and Mrs. Croft. (Und wenn man an die alles entscheidende Szene denkt, in der Anne sich am Fenster mit Captain Harville darüber unterhält, wie die Liebe der Seeleute die langen Trennungen übersteht, siehe: hier, dann ist es wohl bedeutsam, dass Mrs. Croft nicht an Land zurück bleibt, sondern ihren Mann auf seinen Reisen begleitet.)

Jedes Paar ist anders. Jeder Versuch kann scheitern. Oder gelingen. Ob man glücklich war, das weiß man - sagt schon Aristoteles - erst ganz am Ende.



Dienstag, 7. September 2010

Hr. Hediger will wissen, wie ich die Bergpredigt auslege

Markus A. Hediger schrieb im Kommentar zu DIE MACHT DER PERSPEKTIVE : "@MelusineB: Wie deutest du dann Matthäus 5.17ff? (Und zu deinem Nachtrag am Ende des Hauptbeitrags: Dann willst du auch einen verfälschten Gott, einen Gott, der deiner Perspektive gerecht wird?)" Eine Deutung der Bergpredigt, wie vorläufig, laienhaft und fragmentarisch auch immer, sprengt den Rahmen, den die Kommentarfunktion zulässt. Daher antworte ich hier:

Lieber Markus,

fair ist das nicht, mir so en passant eine Deutung der Bergpredigt abzuverlangen. Du weißt ja sicher (und viel besser als ich!), wer sich daran schon alles versucht hat und zu wie unterschiedlichen Ergebnissen wesentlich bedeutendere Geister gekommen sind. Gut, ich habe mich aus dem Fenster gelehnt. Das gebe ich zu. Und mich damit wieder einmal dahin gebracht, wohin ich immer – gut protestantisch – gerate: in den Rechtfertigungszwang.

Im Matthäus-Evangelium (5, 17ff) spricht Jesus: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz oder die Propheten außer Kraft zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um außer Kraft zu setzen, sondern um zu erfüllen. Denn ich sage euch: Solange Himmel und Erde nicht vergehen, wird auch kein einziger Buchstabe und nicht ein einziges Strichlein vom Gesetz vergehen; alles muss sich erfüllen. Wer darum eines dieser Gebote – und wäre es das geringste – für ungültig erklärt und die Menschen in diesem Sinn lehrt, der gilt im Himmelreich als der Geringste.«

Er ist gekommen um es zu erfüllen. Weil wir es nicht erfüllen können. „Alles muss sich erfüllen.“ --- Es erfüllt sich im Glauben an ihn. Ich habe nicht bestritten, dass die Gesetze gelten. Sondern dass sie uns gelten, um sie zu erfüllen. Sie gelten uns, um uns zu orientieren. Es gibt kein richtiges Bild von Gott: das gilt.  Aber es gibt keinen Menschen, der sich kein Bild macht (ob von Gott oder anderem, denn – denk dran – das Verbot verbietet nicht nur das Abbilden Gottes!) „Wenn euer Leben der Gerechtigkeit Gottes nicht besser entspricht, als das der Schriftgelehrten und Pharisäer werdet ihr mit Sicherheit nicht ins Himmelreich kommen.“ Werden wir nicht. Lies, wie er fortfährt. Er bezieht sich jetzt auf die „lebensweltlichen Gesetze“ (Dekalog 4-10), also jene, die das Verhältnis der Menschen zueinander regeln. Man möchte meinen, immerhin die wären doch – wenn wir schon mit Gott nicht ins Reine kommen könnten – zu erfüllen. Aber: was sagt er: „Jeder, der auf seinen Bruder zornig ist, gehört vor Gericht. Wer zu seinem Bruder sagt: ›Du Dummkopf‹, der gehört vor den Hohen Rat. Und wer zu ihm sagt: ›Du Idiot‹, der gehört ins Feuer der Hölle.“ Zeig mir einen, der noch nie auf einen anderen zornig war. Nur einen oder eine.  Und weiter geht´s mit dem Ehebruch: „Jeder, der eine Frau mit begehrlichem Blick ansieht, hat damit in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Ich könnte mich hier aus der Affäre stehlen, weil das im Kontext ganz offensichtlich auf heterosexuelle Männer bezogen ist. Aber ich räume freimütig ein: Auch ich schaue mit begehrlichem Blick auf Frauen, die nicht die meinen sind.) Dann geht es um das Verbot zu lügen. Wittgenstein pur: Wovon man nicht reden kann, davon soll man schweigen. (Alle deine Metaphern, Markus, wären verboten!) Und schließlich die völlige Überforderung: Deine Feinde zu lieben. Erklär du mir, wie das Gesetz, so ausgelegt, wie er es tut, erfüllt werden soll durch uns. Die ganze Rede dient dazu, uns verstehen zu lassen, dass wir versagen. Anders kann ich sie nicht verstehen. Denn wenn ich auch mein Handeln kontrollieren kann (und glaub mir, darum bemühe ich mich aufrichtig), so kann ich doch die Gedanken und Gefühle nicht beherrschen.

„Ihr aber sollt vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ Wie kann das sein? Wir – vollkommen? Wir sind vollkommen nur in seinem Blick, verstehst du? Als von ihm Geliebte. Anders nicht. Und durch diese Liebe sind wir gebunden, uns an der Vollkommenheit zu orientieren. Nicht mehr, weil wir ängstlich Gesetze befolgen, sondern weil wir in seinem Blick „gut“ sein wollen, so gut als möglich. Und wo wir nun doch versagen, heilt seine Liebe unsere Unvollkommenheit. Diese Liebe vergibt gnädig, dass wir nicht so sein können, wie wir sein sollten. Dennoch ist es keine „billige Gnade“, denn der Preis, um den sie gewährt wird, ist die Einsicht in unsere Unvollkommenheit, der harte und ungeschönte Blick auf unser Versagen.

Du hast mich sehr weit getrieben, mich hier zu bekennen. Niemals in meinem nicht virtuellen Leben sagte ich das laut, was ich oben schrieb. Das ist mein Geheimnis. Sorgsam gehütet. Denn ich bin brav. (Ich sagte das schon mal, aber ich denke, du glaubtest mir nicht.) Wenn es ums Handeln allein ginge, dann könnte ich getrost sagen: Die „lebensweltlichen“ Gesetze, wenn man sie nicht zu eng auslegt, erfülle ich weitgehend. Aber lege es im Sinne der Bergpredigt aus und du könntest mich beim Bruch eines jeden dieser Gesetze ertappen. (Nun du nicht, nur ich mich selbst, nicht wahr?)

Du fragtest mich, wie ich Matthäus 5,17f auslege. Und brav habe ich geantwortet. Schreibend von unterwegs auf meinen Arbeitswegen, das Laptop auf den Knien, den Text der Luther-Bibel aus dem Netz herunter ladend,vorläufig, so wie ich es jetzt glaube. Ich kann dir nur antworten, wie ich mir den Text auslege. Ich trete nicht missionarisch auf. Ich erkenne ohne Weiteres, dass das Verlangen so geliebt und geheilt zu werden, eben mein ganz persönliches ist, nicht zwingend eines, das irgendjemand teilt und daher auch die Auslegung, die ich mir zurecht lege, nur eine Projektion meiner Wünsche sein kann und wahrscheinlich ist. (Man könnte mir auch mit einer Psychoanalyse kommen, oder? )

Am vorvergangenen Sonntag sprach ich lange mit einer Freundin darüber. Sie, die aus Persien stammt, trägt andere Prägungen mit sich. Wir waren uns einig (korrigiere mich, Azar, wenn du das liest und es dir falsch erscheint), dass wir in der Tat, wenn wir uns nicht taub stellen und innerlich verhärten, immer getrieben sind, uns und die Welt an einem „Soll-Zustand“ zu messen, also der Wirklichkeit ein Anderes, ein Ideal gegenüber zu stellen. Während ich jedoch die Tatsache, dass Sein und Sollen niemals zur Deckung gebracht werden können, als Versagen empfinde, erfreut sich Azar der Fähigkeit, die ihr verliehen wurde, auch der Fähigkeit, mit den Widersprüchen zu leben und sie zu ertragen. Ohne ein schlechtes Gewissen. Wer sich bemüht, muss keines haben, empfindet sie. Und ich beneide sie um diesen Froh-Sinn, den meine protetantische „Seele“ nicht dauerhaft findet.

Doch geben mir – neben Musik und Literatur – vor allem die Bilder immer wieder solche Stunden frohen Sinns. Jene Bilder, die man – befolgte man das Gebot vom Sinai seinem Wortlaut nach -  nicht schauen darf, die verfälschend eine Welt abbilden, wie der Einzelne sie sehen kann und mag, eine Welt, in der seine Subjektivität sich bestätigt und seine unbeschädigte Phantasie eine Wahrheit entwirft, die einzig hier gilt: im von ihm geschaffenen Bild. Ja, das will ich.

(Dagegen, Markus, ist die Frage, ob und wie ich Gott will, doch gänzlich ohne Sinn: Weil es für ihn, falls es ihn gibt, ganz ohne Belang ist, wie ich ihn entwerfe und umgekehrt für mich gar nichts anderes möglich ist, als mir ein Bild zu entwerfen. Ob ich ihm gerecht werde, was mag ihn das scheren? Mein Bild – und mehr werde ich nie „haben“ – kann ja niemand anderem gerecht werden als mir. Allenfalls, um dem zu entgehen, könnte ich Autoritäten folgen. Welche schlägst du vor? – Nun, ich würde ohnehin nicht folgen, weil ich nicht folgsam sein will. Weil ich es für den Fortschritt überhaupt halte, die Subjektivität ins Recht zu setzen gegen alle Autorität. Darum ist immer wieder zu ringen. Denn neue Autoritäten erheben stets neue Absolutheitsansprüche. Auch die Perspektive, die als Bildsprache ursprünglich der Subjektivität einen Bildraum verschaffte, musste daher von den modernen Künstlern wieder auf ihre Grenzen hin befragt werden.)

Du fragst mich fast wie ein Inquisitor. Und ein bisschen fühlt sich das auch an wie Folter. (Du selbst bist mir Antworten schuldig geblieben. Weißt du noch, dass du mir die Heiligen erklären wolltest?)

Herzliche Grüße




(mit dem falschen Namen mag ich dies nicht zeichnen)

Artenvielfalt im Antragswesen

Aus dem Benutzerleitfaden für das online-gestützte Antragsverfahren des Amtes für ************:

"Mit der neuen Online-Anwendung *** stellen wir Ihnen ein Werkzeug zu Verfügung, mit dem sie orts- und zeitunabhängig die Anträge bearbeiten können.

Der Überbegriff Anträge bezieht sich dabei auf die jeweilige spezifische Art. Anträge können wie folgt bearbeitet werden:

- genehmigt
- mit Auflage genehmigt
- nicht genehmigt

Alle Mitabeiter einer entsprechenden Abteilung bzw. eines entsprechenden Ausschusses des Amtes für *************** haben Zugang zu den Antragsdaten, können Einsicht in den Antrag nehmen, ihn beurteilen und sich den jeweiligen Antragsstellern zuordnen. Ein Antrag ist vollständig bearbeitet, wenn  drei zuständige Mitarbeiter zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen.

Für die übergreifende Kommunikation zwischen den Mitarbeitern des Amtes für ************ stehen diverse Hilfsmittel und Automatismen zur Verfügung.

Bearbeitungszeitraum

Die Leitung des Amtes für  ************* informiert Sie rechtzeitig über den Bearbeitungszeitraum, in dem jeweils Ihr persönlicher Zugang zur Online-Anwendung freigeschaltet ist.

(...)

Erinnerungsfunktion

Das Auswahlfeld "Ok" kann drei verschiedene Farbzustände annehmen.

Grün: Sie haben diesen Antrag bearbeitet. (abschließende Entscheidung)
Rot: Sie befinden sich in der Bearbeitung (vorgemerkt)
Gelb: Es sind bereits drei Mitarbeiter mit der Bearbeitung dieses Antrages beschäftigt.

(...)"

Montag, 6. September 2010

DUCKING AND WEAVING. Würden Sie einen Mann mit Perücke wählen?

Image: Ducking and weaving (Intelligent life, The Quarterly from Economist, Autumn 2010)

Einst verklagte Gerhard Schröder Journalisten, die zu behaupten wagten, er färbe sich die Haare. Schröder hatte Grund, sich zu wehren. In Deutschland gilt Eitelkeit bei Männern (eines bestimmten Milieus und der älteren Generation) als unangebracht. Der alberne konstruierte Gegensatz zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit wird sorgfältig gepflegt und das eigene Äußere sträflich vernachlässigt. Wenn ältere Männer auf ihr äußeres Erscheinungsbild Wert legen, gelten sie in ihrer Generation immer noch als affektiert. Ein Mann, der sich die Haare färbt, kann politisch nicht ernst genommen werden? Ein Mann, der sich gewählt und vielleicht auch originell kleidet, hat nichts zu sagen? Schaut man sich die „Entscheidungsträger“ an, so gilt das offensichtlich immer noch: Anzug in grau, schwarz, dunkelblau, weißes Hemd, die Krawatte als einziger kleiner Farbtupfer und Ausdruck einer sich beschränkenden Individualität. So frei sind die freien Herren der freiheitlich demokratischen Grundordnung und der freien Wirtschaft offenbar nicht. 

In „intelligent life“ (dem vierteljährlichen Kulturmagazin des Economist) beschäftigt sich Simon Carr mit der Frage, was Wähler(innen) von den Haaren der Politiker erwarten. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Beobachtung, dass der Haaransatz von David Cameron zurückweicht. „Could a man in a wig ever be prime minister of Britain? Could a white person with curly hair become president of the United States? Has a bravely bald woman ever been elected to anything? And moustaches – will they ever return to office? Researchs shows that the answers to this questions are, with variations around the mean, no.“ Je mehr die Bedeutung von Äußerlichkeiten in einem Bereich geleugnet wird, behaupte ich, desto uniformierter wird sich das Äußerliche dort zeigen. Und eben damit auch desto bedeutsamer. Wer sich an die uniformierte Äußerlichkeit nicht hält, wird ausgegrenzt. Hat da nicht zu sagen. Wird nicht ernst genommen. Gilt nichts. Das vorgebliche Primat der Inhalte vor der „Verpackung“ ist nichts anderes als die Ideologie, mit der eine genormte Darstellungsform von Herrschaft durchgesetzt wird. David Cameron nun gehört zu jener neuen Generation (männlicher) Politiker, die ihr Aussehen durchaus zu ihrem Vorteil einsetzen: als Signal für Jugendlichkeit und Aufbruch (wie schon einmal vor 45 Jahren John F. Kennedy, der mit einer Ära der Äußerlichkeiten auch eine neuer individueller Freiheit einläutete; ein Zusammenhang, der meines Erachtens unterschätzt wird).

„The collapse of authority“, schreibt Simon Carr, „made a bald leader impossible in the West, ending the era when baldness was a sign of virtue.“ Heutzutage, meint Carr, sende Kahlheit unterschiedliche Botschaften, je nachdem, was ihre Ursache sei: Haarausfall, Chemotherapie, buddhistisches Mönchtum, Zugehörigkeit zur schwulen Clubbesucher-Szene, ein harter Draufgäner wie Bruce Willis oder das Alter. So unterschiedlich sie seien; keine sei eine Wahlempfehlung für jene Wählerschaft, um die gebuhlt werde: die Mitte. Dichtes Haar signalisiere Jugend und Agilität, Macht und Schönheit. Verliere ein Mann sein Haar, so bleibe ihm die Bruce-Willis-Taktik der Offensive: alles abrasieren, den Friseur feuern und die Glatze polieren. (Carr nennt als Beispiel William Hague, den neuen britischen Außenminister). David Cameron, spekuliert Carr, geht einen anderen Weg: „Lately the empty quarter too seems to have shrunk. The sink hole has been filled. Whether this was the result of covert transplants or wether it´s a natural, tidal phenomenon is one of the little mysteries of modern politics. Time will tell, as it always does.“

Das stimmt. Schrecklich genug. Wir Frauen sind da einen Schritt voraus. Färben ist kein Problem. Haarverlängerung geht in Ordnung (habe ich noch nicht probiert). Ich hätte nichts dagegen, wenn Männer auf dem Sektor einfallsreicher und experimentierfreudiger würden. 

Sonntag, 5. September 2010

BEFALLENE SPÄNE (FÜR READ AN)

Am 10. März 2010 veröffentlichte Read An in Die Dschungel.Anderswelt das Gedicht:

Elfe stanzt Rose

Sanftes Lot erze,
letzter Ton fasse.

Seelentorf. Satz
fraß tote Lenze.
Oft zerlesen. Ast-
falter setzen so
stolzeste Farne
fest. Orales Netz,
zerflossene Tat.

Los, tanze fester.

Und irgendwas dran, was mich berührte, trieb mich zu einer Antwort: 

Rose schattet (Zwischenspiel)

Helle Not schwärze
Welke Wut raste.

Leibchenschmerzen
aßen neues Brot,
fast verwesen, Welt-
filter stellen auf
älteste Wipfel,
grün, ehrliche Ruh,
aufgehaltenes Wort.

Auf, welle dichter!

Ein Spaß. Alban Nikolai Herbst schrieb mir, er fände es „süß“. Das war ein bisschen gemein. Fand ich. (Aber vielleicht hatte er es nicht so gemeint.) Doch Read An freute sich: „Schön, dass Sie´s zurück spiegelten von drunten!“ Das freute mich. Und daraus entstand, weil Read An mit ihrer ersten Antwort nicht zufrieden war, das schöne Gedicht „Späte Welt fiel“, das sie mir widmete (worauf ich stolz war).

Späte Welt fiel

Aufgeholtes Warten,
lerchenruhige Ruh.

Rufe stillen fetal.

Esst Neues,
so narbt es!
Raue Wildflechte,
Welkwetter aus
Haut, regst Wölfe an.

Alter Fluch weide,
weltlich auf Erde.

Das war Ende Juni. Und ich versprach zu antworten. In einem Gedicht. Vieles kam dazwischen. Unter anderem das Zerwürfnis mit Alban Nikolai Herbst. Doch Read An erinnerte mich. Ich laborierte. Wollte Anagramme bilden. Das war nix. Ich kann es tausendmal wenden. Besser wird´s nimmer. Wer dichten kann, ist Dichtersmann. (Ich nicht.) Das ist jetzt mein Versuch einer Antwort:

Befallene Späne

Wuchernd ausgehöhlt
Holzbrüter im Honigtau

Stille verrufen das Tal.

Fremd wuchs
Frostrissig
Narbig, faul

Ungehäutet
Ein Fressen
Den Wölfen.

Verflochten, verflucht
beredet und geerdet.

Welt
Licht

(immergrün)


HANS BALDUNG GRIEN: EVA
Verlinkt: Teuflische
SHE-DEVIL