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Dienstag, 26. April 2022

Sentimentale und sensible Schlächterseelen.


1983 war ich bei der großen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten. Ich war überzeugt, dass der NATO-Doppelbeschluss, durch den mit Atomwaffen bestückte Mittelstreckenraketen in Europa stationiert werden sollten, die Gefahr eines Atomkrieges heraufbeschwor. Nächtelang diskutierte ich das Thema mit meinem Vater, der mir 1:1 die Argumentation Helmut Schmidts vorhielt. Auch im Morgengrauen kamen wir noch zu keinem Konsens. Aber er fuhr mich dann zur Haltestelle des Busses nach Bonn. 

Unter meinen engeren Freunden haben fast alle den Wehrdienst verweigert. Die zur Bundeswehr gingen, berichteten von sinnlosen erscheinenden Manövern ("Fulda Gap") und nervtötenden Diensten. Anfang und Mitte der 80er Jahre prägte die Angst vor einem Atomkrieg meine Generation. In den Schulen erhielten wir Einweisungen des Katastrophenschutzes, wie wir uns im Falle eines Atombomben-Abwurfs zu verhalten hätten: in Ackerfurchen werfen und möglichst mit einer Folie bedecken, den atomwaffensicheren Bunker aufsuchen. Auf Nachfragen ("Woher Folie nehmen?", "Hier gibts keinen Bunker, wohin also?") reagierte das Personal gereizt. Uns blieb nach solchen Stunden die Gewissheit: Wenn es soweit kommt, gibt's kein Entrinnen. Am besten ist noch dran, wer sofort tot ist. 

Pazifistin war ich nicht. Ich weiß über mich, dass ich zurückschlagen will, wenn ich angegriffen werde und ich empfinde dabei keine Schuld. In den Diskussionen mit meinem Vater ging es nicht darum, auf Abschreckung durch Atomwaffen zu verzichten, sondern darum, welche Abschreckung funktioniert. Meine Position war vereinfacht: Je durchführbarer und begrenzbarer ein Atomkrieg erscheint, desto wahrscheinlicher wird er.  Deshalb müsse man auf totale Abschreckung setzen, was bedeute: Atomkrieg = totale Vernichtung beider Seiten. Mein Vater, auf der Linie Helmut Schmidts, argumentierte: Abschreckung werde unglaubwürdig, wenn sie  auf totale Vernichtung setze, der Gegner könne dann annehmen, dass man nicht zu antworten wage, wenn er "nur" Raketen mit kleinerer Sprengkraft und geringerer Reichweite einsetze. Daher: Man müsse auf demselben Level antworten können. 

Mein Vater (und Helmut Schmidt) hatten Recht. Denke ich heute. Abschreckung muss glaubwürdig sein. Nur dann funktioniert sie. (Olaf Scholz, indes, scheint das noch immer anders zu sehen.)

Nur wenige Jahre nach der Demonstration im Bonner Hofgarten brach die Sowjetunion zusammen. Schon unter dem Zarenreich kolonialisierte Völker erlangten die staatliche Selbstständigkeit. Russischstämmige wurden nicht selten unter fürchterlichen Umständen vertrieben. Im Westen nahm man davon nur wenig Notiz. Genauso wenig, wie man die Geschichte der Unterdrückung dieser Völker unter den Zaren oder später unter Stalin und unter deutscher Besatzung jemals wirklich zur Kenntnis genommen hatte. In Deutschland hat man sich bei der Aufarbeitung der eigenen verbrecherischen Geschichte immer nur auf eine Schuld gegenüber "Russland" bezogen. Ehemals dem Warschauer Pakt angehörenden Staaten drängten in den Folgejahren in die NATO. Für Litauen, Lettland, Estland, Polen, Tschechien, Rumänien, Bulgarien, die ihre Erfahrungen mit sowjetischer Besatzung hatten, war dies die einzig vorstellbare Bestandsgarantie eigener staatlicher Souveränität. (Die europäischen Ex-Warschauer Pakt-Staaten, die nicht der NATO beitraten, sind seit Putins Machtübernahme systematisch destabilisiert worden: Georgien, Moldavien, Ukraine). Von westlicher Seite wurde eine "Sicherheitspartnerschaft" mit Russland angestrebt, ein neues Gleichgewicht, dass nicht mehr auf Abschreckung beruhen sollte.

Ich gebe zu: Von alledem bekam ich recht wenig mit. Das Land, in dem ich aufgewachsen war, existierte nicht mehr: die BRD. Es gab jetzt: DEUTSCHLAND. Schon das fühlte sich falsch und unwirklich an. Ich beendete am Ende des Jahres 1989 mein Studium, Mitte der 90er Jahre wurde ich zweimal kurz hintereinander Mutter. Mein Blog (dessen erster Eintrag im Februar 2010 veröffentlicht wurde), wie ich im Geleitwort schrieb, hat zwar "als Fluchtpunkt" das Jahr 1989. Aber es war eine sehr selbstbezügliche Suche nach der "verlorenen Zeit", auf die ich mich machte. Verloren waren die Jahre des "verantwortungslosen Zahlens und Stillhaltens", schrieb ich, mir selbst verbergend, dass ich genau darin, in dem noch verantwortungsloseren Festhalten an dieser Haltung, mich doch recht gut eingerichtet hatte.

Mein Land, jetzt also Deutschland, gab sich überall als geläutert, der Gewalt abhold, vermittelnd. Personifiziert geradezu durch einen bescheiden im Hintergrund agierenden Kanzleramtsminister, den späteren Außenminister und jetzigen Bundespräsidenten Steinmeier. Stets moralingetränkte, sonor vorgetragene Sprüche auf den Lippen, wurden hinter verschlossenen Türen die Waffenlieferungen in alle Welt abgewickelt, wo's heikler wurde, setzte man auf Dual-Use-Klassifizierung, man war zugänglich und umgänglich gegenüber jedem und jede/r Diktatoren-RepräsentantIn, trank Tee mit faschistischen Schlächtern im Eigenheim,  tätschelte sich mit den Folterern, fühlte sich aber stets vor allem den US-amerikanischen Imperialisten moralisch um Längen überlegen. Die eigene Hochanständigkeit wurde dann noch erheblich gebolstert durch den mit offensichtlichen Lügen begründeten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak. "Wir" wirkten in alle Richtungen ausgleichend, mäßigend und geschäftstüchtig mit. Zu einer grotesken Parodie ihrer selbst wurde die Steinmeiersche (Nicht-)Haltung endgültig in Gestalt seines Amtsnachfolgers und Parteikollegen "WirrufenbeideSeitenzurMäßigungauf"-Maas. 

Wir hatten die Regierungen, die wir verdienten. Berauschten uns an unserer Willkommenskultur und unserer "Wirschaffendas-Alternativlos"-Kanzlerin, die uns Politik, Entwicklung und Veränderung ersparte, Zeit kaufte, wo sie sich mit Geld kaufen ließ, und ansonsten, wiederum eher hinter verschlossenen Türen, die Interessen der deutschen Auto- und Chemieindustrie und des deutschen Bankensystems auch dann vertrat, wenn es gegen EU-Regeln verstieß (umso energischer die Verstöße anderer Länder anprangernd). Um die Transformation des Landes in ein Niedriglohn-Paradies, die vom Brioni-Kanzler begonnen worden war, fortsetzen zu können und der wahlentscheidenden Mittelklasse nichts zumuten zu müssen, brauchten wir billige Energie und die Männerfreundschaftsbünde, die sie uns verschafften, waren und blieben intakt. Der "lupenreine Demokrat" im Kreml lieferte und unsere politische Klasse ließ sich aushalten. 

Die Zeit ist abgelaufen. Um Demokratie haben wir als Gesellschaft nie gekämpft. Sie wurde uns geschenkt. Ein paar tapfere Demokraten und Demokratinnen schrieben uns 1948  ein Grundgesetz, die beste Verfassung der Welt. Wir ehrten sie kaum. Ihre Namen sind in unseren Städten nicht präsent, wir bauten ihnen keine Denkmäler. Unter dem Schutz amerikanischer, französischer und britischer Atomraketen und mit der Hilfe des Marshall-Plans konnten wir ökonomisch prosperieren. Wir hatten uns so gut daran gewöhnt, die externen Kosten unseres Geschäftsmodells nicht zu tragen.

Die Zeit ist abgelaufen. Sie war im Grunde schon 1989 abgelaufen. Wenn ich mein "Geleitwort" lese, wird mir klar, dass ich es wusste, aber eben nicht wahrhaben wollte. Selbstbezüglich wollte ich mich lieber mit Identitätsfragen und meiner Befindlichkeit befassen, als nach dem Preis zu fragen, den der Luxus, das überhaupt zu können, kostete. Ich habe erst sehr spät nach Osteuropa geschaut. Unter anderem die Bücher Swetlana Alexjewitschs machten mir klar, was ich übersehen hatte. 

Nie hatte ich, wie viele andere Linke, mit der Sowjetunion sympathisiert, nie wäre es mir in den Sinn gekommen, die Nachfolge-Partei der SED zu wählen. Meinen Solschenizyn hatte ich schon gelesen, auf die Idee, wie Gregor Gysi noch 2022 (und dann enttäuscht wie ein kleiner Bube), die Sowjetunion als "Friedensmacht" zu bezeichnen, wäre ich nie gekommen. Und doch: Ich hatte an das Ende der Abschreckung geglaubt. Und kaum wahrgenommen, dass die Kolonialreiche, deren problematische Abwicklung im "Westen" ganze universitäre Theorie-Schulen kritisch analysierten, eben nicht nur von "westlichen" Staaten errichtet worden waren. 

Ja, wir waren geblendet von "Gorbi" und "unserer" friedlichen "Revolution" in der DDR, abgelenkt durch Selbstbeschäftigung und Identitätspolitiken. Parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaat waren gleichzeitig so selbstverständlich für uns und so kritikwürdig, dass wir in ihrem Schutz wie in einem Suppenteller saßen und nicht mal Anstalten machten, über den Tellerrand zu blicken. Die Zeit war abgelaufen, doch wir wählten Politikerinnen und Politiker in führende Ämter, die uns die Illusion verschafften und erkauften, es noch ein bisschen hinauszögern zu können. 

Und jetzt ist Schluss.

Der Preis wurde immer schon gezahlt, nur nicht von uns. Wer in der DDR Plakate hochhielt, auf denen stand "Schwerter zu Pflugscharen", landete in Bautzen. "Ein bisschen Frieden", war ein blödes und naives Lied, aber im Grunde beschreibt es ziemlich exakt, wie wir uns benahmen. Wir wollten die Guten sein und uns gut fühlen, Urlaubsflüge, Auto und Eigenheim inklusive, aber bitte mit Sahne und ohne schmutzige Finger. 

Am 24.Feburar 2022 hat der russische Autokrat Wladimir Wladimirowitsch Putin einen völkerrechtswidrigen Angriff auf die Ukraine angeordnet. Seither sterben Ukrainerinnen und Ukrainer, werden vergewaltigt, gefoltert, ermordet, verlieren ihre Wohnorte und Infrastruktur, ihre Lebensgrundlage, müssen zu Millionen fliehen. Doch eine Melange aus "alten" Linken und jungen "Woken", SPD-Granden, korrupten Fossilenergie-Händlern, Gewerkschaften und Industriebossen, AfD-Anhängern und Alt-Feministinnen will unbedingt und auf Deubel komm raus noch einmal Zeit schinden und den Schlächter in Moskau nicht provozieren. Krude wird gemixt: Der Schlächter hat berechtigte koloniale ("Sicherheits"-)Interessen (besonders anrührend von Linken vorgetragen), dem Schlächter wurde der Respekt versagt ("Regionalmacht"), der Schlächter liefert zuverlässig (man kann nicht nur mit Leuten Geschäfte machen, die "unsere" Idee von Menschenrechten teilen), der Schlächter hat eben, was wir brauchen, nämlich fossile Billigenergie (ansonsten Massenarbeitslosigkeit und "Hyperinflation"), der Schlächter hat Atomwaffen und er wird sie suizidal einsetzen, wenn man ihm nicht gibt, was er verlangt. Der Schlächter ist also gleichzeitig bedrohtes, diskriminiertes Opfer oder Psychopath, er ist zuverlässiger Verhandlungs- und Geschäftspartner und wahnsinniger Erpresser, man muss vertrauensvoll mit ihm "Gespräche und Verhandlungslösungen suchen" und kann ihm ALLES zutrauen. 

Die "Friedensfreunde", zuletzt die abgehalfterten "Intellektuellen" mit ihrem unsäglichen Appell, entlarven sich selbst. Denn wären sie im Ernst Pazifisten, müssten sie die härtesten Sanktionen, die denkbar wären, fordern: den vollständigen Abbruch aller Handelsbeziehungen zur Russischen Föderation, Energieembargo SOFORT, die Sperrung des Skagerraks und aller Häfen für russische Schiffe, Sanktionen gegen alle, die noch mit dem Aggressor handeln. (Ja, das ist  in der gegenwärtigen geopolitischen Situation nicht realistisch, aber immerhin wäre es "idealistisch".) Davon ist aber in ihren ekelerregenden Aufrufen NICHTS zu lesen. Es geht immer nur darum, den Schlächter zu besänftigen, seine Lügen als Argumente aufzuwerten und ihm den "Respekt" zu erweisen, den er einfordert. Man will sich nicht die Finger schmutzig machen, aber als ehemalige (und offenbar immer noch gefühlte) Kolonialmacht mit der anderen Kolonialmacht über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg "einen Kompromiss" aushandeln. Wie ärgerlich und abscheulich, dass die Opfer sich nicht einfach fügen wollen. Sind halt Militaristen, von toxischer Männlichkeit angestachelte Kriegstreiber und/oder Marionetten des ewigen Teufels USA (man kann da ganz bequem von islamofaschistischen Seiten abschreiben, passt!). 

Das ist alles ekelerregend. Der Würgereiz wird unerträglich, wenn dieses Gesindel sich dann auch noch für seine Sensibilität und Sentimentalität selbst beweihräuchert. Man wolle ja nur das "Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer" verkürzen. Deshalb: Weder harte Sanktionen, noch Waffen zur Selbstverteidigung. "Frieden schaffen ohne Waffen" (und ohne knallharte Sanktionen freilich auch, bloß mit guten Worten, Respekt und Freundlichkeit gegenüber dem Schlächter). Man hat das doch immer schon skandiert, das muss doch heute wieder gelten. Man lässt sich doch nicht in eine "militärische Logik" hineintreiben, das ist ja "menschenfeindlich". Ja, man will einfach weiter die Dividende einstreichen, mögen andere bezahlen. Davor die Augen zuzukneifen, das hat man doch schließlich schon ein ganzes Leben über geschafft. Jetzt erst mal einen Flug in die Sonne buchen, so stressig ist das alles hier, die ganze Kriegstreiberei, der Kapitalismus und so...,also...

"Mea Culpa", sagt der Alt-Kanzler, dessen Name nicht genannt werden soll, sei nicht sein Ding. Meines schon. Ich habe nicht genügend wahrgenommen und wahrnehmen wollen, wer für die Stabilität im Kalten Krieg, während dem ich Freiheiten genoss (zum Beispiel die Reisefreiheit), zu zahlen hatte, ich habe mich nicht genug eingesetzt für die Freiheit derjenigen hinter dem "Eisernen Vorhang" als ich jung war, ich habe mich nicht genügend interessiert für die Schuld, die Deutsche in der Ukraine und im Baltikum im 2. Weltkrieg auf sich geladen haben, ich war nicht dankbar genug den Tausenden US-amerikanischen Soldaten, die Europa befreiten und von denen viele ihr Leben ließen, ich habe nicht demonstriert gegen die Kriegsführung Putins in Tschetschenien und Syrien, ich habe nicht genügend getan, um die demokratischen Kräfte in Georgien, Moldau, Belarus und Ukraine zu unterstützen. 

Wer in Putin und der Russischen Föderation unter seiner Führung keinen Feind erkennen kann, muss selber eine Schlächterseele sein. Die Russische Föderation führt einen brutalen Angriffskrieg, im staatlich kontrollierten russischen Fernsehen wird der Genozid an den Ukrainerinnen und Ukrainern verherrlicht, Menschen werden deportiert, in Lagern "gefiltert" und gefoltert, Vergewaltigungen sind in den besetzten Gebieten an der Tagesordnung. Wer den Opfern das Recht auf Selbstverteidigung und die Unterstützung dabei (mit "schweren" Waffen, selbstverständlich ) verweigert, wer ein anderes Ziel verfolgt, als die möglichst weitreichende und nachhaltige Entwaffnung des Aggressors, der soll seine schäbigen Krokodilstränen um das "Leid der anderen" ganz leise verdrücken. 

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Wer helfen will: 

https://kse.ua/support/donation


Dienstag, 8. März 2022

Patriarch Kyrill weist uns den rechten Weg - unfreiwillig, aber wirksam. Wer unsere Freunde sind und wer unser Feind ist


https://www.br.de/nachrichten/kultur/russischer-patriarch-schwulen-paraden-grund-fuer-ukraine-krieg,SzOShXa

Patriarch Kyrill, Putin geistlicher Beistand, weist uns den rechten Weg.

"Der Westen", sagt er, will allen Schwulen-Paraden aufzwingen und dagegen müsse man sich rechtzeitig wehren - wie in der Ukraine. 

Wie also kann und soll sie aussehen, unsere "wertegeleitete Außenpolitik"?

Ganz einfach:

Menschen, Gesellschaften, Staaten, in und mit denen keine fröhlichen Gay Paraden stattfinden können, sind NICHT unsere Partner. Mit ihnen pflegen wir nur sehr eingeschränkte Beziehungen, wo es nötig ist.

Menschen, Gesellschaften, Staaten, die andere angreifen, damit keine fröhlichen Gay Paraden stattfinden können, sind unsere FEINDE. Mit ihnen brechen wir alle Beziehungen ab. 

Menschen, Gesellschaften, Staaten, in denen und mit denen fröhliche Gay Paraden stattfinden, können unsere Freunde sein. 


Ganz schlicht. Passt. 

Danke dem Patriarchen für diese Idee!

Donnerstag, 19. August 2021

Die Macht kommt eben doch aus den Gewehrläufen!

 https://gleisbauarbeiten.blogspot.com/2021/07/die-schande-von-afghanistan-wir-lassen.html

Am 1. Juli, als ich den Post oben schrieb ("Die Schande von Afghanistan. Wir lassen die Helferinnen und Helfer der Bundeswehr ungeschützt zurück) , hat kaum eine/r sich aufgeregt. Auf Twitter z.B. - kein Thema! Jetzt sind aber alle ganz empört. Gefordert wird z.B. Aufnahme ALLER afghanischen Flüchtlinge in der EU SOFORT! (so und ähnlich).

Mich widert das an, wenn ich es lese. Denn nichts ist leichter, als solche Maximalforderungen zu erheben, ohne auch nur im geringsten aufzeigen zu müssen, wie sie umgesetzt werden könnten. Wer solches schreibt oder verbreitet (ganz ähnlich wie vor einigen Jahren Sprüche wie "JEDE/R soll WILLKOMMEN sein" - siehe weiter unten: auch die Gefolgschaft der dort Genannten* also? Ernsthaft?) offenbart damit nur seine oder ihre Verantwortungslosigkeit. In doppeltem Sinne nämlich: als Gesinnung und faktisch. Wer tatsächlich Verantwortung trägt oder zu übernehmen bereit ist, wird sich niemals so undifferenziert äußern können und auch niemals so wohl und bequem in seiner moralischen Haut fühlen.

Verantwortung kann nämlich niemand unbegrenzt übernehmen. Es sind nicht zufällig oftmals dieselben Leute, die schon seit Jahren den sofortigen Abzug aus Afghanistan gefordert haben, die jetzt am allerempörtesten auftreten. 

Wahr ist aber: Es sind bewaffnete Fallschirmjäger und die Luftwaffe, die Menschen aus Afghanistan evakuieren. Anders geht es auch gar nicht. Mit Mörderbanden kann man nicht unbewaffnet "ins Gespräch kommen". Die Lage in Afghanistan hat sich auch so entwickelt, weil wir (fast) alle und ich schließe mich da ausdrücklich ein, nicht bereit waren und sind, den Preis zu zahlen, den es gekostet hätte, nicht nur die Taliban außer Landes zu drängen, sondern die Mörder-, Vergewaltiger- und Folterer-Banden von Warlords wie Gulbuddin Hekmatyar*, Abdul Rashid Dostum* oder des allzeit wendebereiten Abdullah Abdullah* zu entwaffnen. Die stehen, wie man hört, auch jetzt wieder in den Startlöchern, für "Verhandlungen" mit den neuen Herrschaften. Schon vor 20 Jahren sagte mir eine Afghanin: "Wenn diese Leute weiter mitmischen und in den Provinzen das Sagen haben, kann es keinen grundlegenden Wandel geben." 

Denn die Macht, liebe Friedensfreundinnen und - freunde, in Afghanistan und anderswo, ja, sie kommt eben doch aus den Gewehrläufen.

Insofern ist das Versagen des sogenannten "Westens" in Afghanistan unser aller Versagen. Es ist die Botschaft an die Welt, dass wir nicht bereit sind, für Menschenrechte zu kämpfen (und das heißt eben auch: zu töten und zu sterben). Den Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben wir trotzdem einen politisch und militärisch halbherzigen Einsatz (den wir niemals Krieg nennen wollten) über mehr als 20 Jahre zugemutet, der unter ihnen Opfer gefordert hat, die unsere Gesellschaft sich öffentlich wahrzunehmen verweigert hat. Auch dessen haben wir uns schuldig gemacht.

"Wir" (der "Westen", die USA oder die Bundesregierung) tragen nicht die Verantwortung für alle Entwicklungen in Afghanistan. Das anzunehmen, wäre Hybris. Wir hätten das früher erkennen müssen, ja. Der Streit darüber ist verschüttete Milch. Wir könnten höchstens Lehren ziehen für andere Einsätze, deren Ziele wir klarer definieren müssen. (Die Verteidigung gegen die Ausbreitung des islamistischen Terrors halte ich grundsätzlich für ein legitimes und notwendiges Ziel.)

Gegenwärtig aber haben wir (als Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland) die unmissverständliche Verantwortung, alle, die im Auftrag unserer Regierung, im Auftrag regierungsnaher Organisationen oder deutsche NGOs oder für deutsche Medien tätig waren und ihre Familien zu evakuieren. Weil "wir" sie gefährdet haben. Darüber hinaus sollten wir versuchen, jenen, die sich für Menschenrechte und Demokratie exponiert haben (Medienschaffende, Künstlerinnen und Künstler, Frauenrechtlerinnen) eine Ausreise zu ermöglichen und ihnen Asyl anbieten. Das ist das, was wir im Moment vielleicht erreichen können. Alle unsere Anstrengungen sollten sich darauf konzentrieren. 

Wir müssen unsere Regierung drängen, bürokratische Hürden abzubauen und wir dürfen die Amtsträger nicht schonen, die ihre Verantwortung bisher nicht oder nur unzureichend wahrgenommen haben.

Und das heißt auch: "Wir" werden uns nicht ganz so angenehm und moralisch integer fühlen können, wie es die Maximalforderer sich wünschen. Es werden nicht ALLE ausgeflogen werden können, die das wünschen, sondern diejenigen, die "wir" gewissermaßen "auswählen". Denn das Zeitfenster und die Kapazitäten sind knapp. Die Alternative dazu wäre nämlich, jene an Bord der wenigen Kabul verlassenden Flugzeuge zu lassen, die sich am ehesten gegen andere körperlich durchsetzen können.

An der Stelle jener Beamtinnen und Beamten, Soldatinnen und Soldaten, die diese Aufgabe jetzt in Kabul übernehmen, möchten wohl nicht viele sein. (Ich denke, am wenigsten die, die jetzt das Maul am weitesten aufreißen.)

Mein Dank gilt den Soldatinnen und Soldaten der Luftwaffe, die die Flüge organisieren und durchführen, den Einsatztruppen der Fallschirmjäger, die den Zugang zum Flughafen ermöglichen und den wenigen verbliebenen Mitarbeiter_innen des Außenministeriums in Kabul. Sie übernehmen Verantwortung. Beschränkt. Begrenzt. Wo und wie es möglich ist. 

Über ihre politischen Vorgesetzten kann man das nicht sagen. Über die empörungsgeile und selbstgerechte Gesellschaft, in deren Dienst sie stehen, leider eben so wenig.





Freitag, 28. Mai 2021

BITTERBÖSE ENTTEUSCHUNG. (WORT-SCHATZ 24)

Diese Müdigkeit.

Und nicht allein. "Mütend", schrieb eine auf Twitter und es trendete gleich. Das geht offenbar vielen so. Es trifft meine Stimmung und bleibt doch eine unvollständige Bestandsaufnahme. 


ENTTEUSCHT


"ex errore rapere, aus der teuschung ziehen"

"emachte, indem er entteuscht ward, die wunderlichsten geberden." (Göthe)


Ich bin aus meiner Täuschung gezogen, unsanft, unerwartet, ungeschützt. Liege nun ramponiert und verdreckt am schlammigen Ufer des Teuschungssees und schäme mich meiner Entstellung. Versuche, vergebens, die Entblößung zu verbergen. 

Man macht halt irgendwie weiter. Muss ja. (Es sagt ja schon alles, diese Verwendung des "man", hinter dem sich das "Ich" verbirgt und unkenntlich und verantwortungslos zu machen sucht.)

Was schrieb ich im im April 2020 noch so naiv: "... ich bin dankbar dafür, in einer Gesellschaft zu leben, die sich in ihrer Mehrheit (bis jetzt) anders entschieden hat: Der Schutz des Lebens ist uns was wert. Auch des Lebens jener, die - vielleicht - nicht mehr so lange zu leben haben wie andere. "

Im Mai 2021 ist klar: In einer solchen Gesellschaft lebe ich nicht. Der Schutz des Lebens älterer und vorerkrankter Menschen war uns nicht so viel wert. Am heutigen Tag verzeichnet das RKI, dass in Deutschland bisher 88167 Menschen an Covid 19 gestorben sind. Am Ende der Pandemie werden es mit hoher Wahrscheinlichkeit über 100 000 Tote sein. Weltweit sind offiziell bisher mehr als 3,5 Millionen Menschen an dem neuartigen Corona-Virus gestorben. Der "Economist" weist in einer groß angelegten Recherche nach, dass diese Zahl bei Weitem zu niedrig angegeben ist. Die Redaktion geht eher von über 10 Millionen Toten weltweit aus. Dabei handelt es sich um den niedrigsten Schätzwert. Es könnten durchaus deutlich mehr Tote sein. Aus vielen Ländern liegen keine genauen Zahlen vor. Allein in Russland, zum Beispiel, ist die Übersterblichkeit 6 bis 7fach höher, viel mehr als die offizielle Zählung der Corona-Toten annehmen lässt. 

Die Pandemie dauert nun anderthalb Jahre. Auch wenn Hoffnung besteht, dass sie durch die Impfkampagnen in Nordamerika und Europa dort abklingt, geht sie rund um den Globus weiter. Es sieht so aus, als werde auch diese Pandemie, wie die "Spanische Grippe", am Ende um die 20 Millionen Menschen das Leben kosten.  

Ich hatte mich also getäuscht, als ich vom Fortschritt ausging. Davon, dass eine entwickeltere Gesellschaft eine solche Todesrate nicht zulassen werde. Wir werden so viel Tote zu beklagen haben (aber eben kaum beklagen, davon später), obwohl es gelang, in Rekordgeschwindigkeit Impfstoffe zu entwicklen. Der technologische Fortschritt wird uns als Gesellschaften retten, aber er wird ganz offensichtlich nicht begleitet von einem gesellschaftlichen Fortschritt, der es ermöglicht hätte, ihn solidarisch zu nutzen, um die Todesrate niedrig zu halten, um Menschenleben zu retten. 

Vielmehr hat sich gezeigt: Unsere Gesellschaften in Europa sind so organisiert, dass es möglich ist, für fast alle das komplette persönliche Leben über viele Monate brutal einzuschränken, sie auf Arbeitsleben und Kernfamilie zu reduzieren, aber unmöglich die Produktion und den Handel mit Gütern auch nur für wenige Wochen einzuschränken, um allen diese Grundrechtseingriffe auf Dauer zu ersparen. Überraschend auch: Offensichtlich funktioniert auch der entwickelte Kapitalismus so, dass wir als Arbeitskräfte gebraucht werden, weniger jedoch als Konsumenten. Denn es war vertretbar, den Einzelhandel, Gastronomie, Tourismus und Kultur langfristig dicht zu machen, nicht aber Fabriken und Büros. 

Man könnte das auch so ausdrücken (wenn es auch ein wenig simpel gedacht ist): Dieses "System" (politisch und ökonomisch) funktioniert offenbar ohne jede menschliche Lebensfreude. (Sicher hätte man Einzelhandel und Kultur vor der Digitalisierung nicht ganz so krass einschränken können, doch kann Digitales reale Begegnungen eben nicht ersetzen, wie sich je länger desto deutlicher zeigt.) Dass die Menschen durch diese Entleerung ihres Lebens, durch diese Reduktion auf ihren Wert als Arbeitskraft ausgelaugt sind, wird von der Politik dann noch als Begründung herangezogen, sogenannte "Lockerungen" jeweils überhastet zu verkünden, durch die Einschränkungen im Privaten immer weiter verlängert werden müssen. 

Ich bin bitter und böse. 

Entteuscht.

Was mich am meisten überrascht dabei, ist, dass es so tief sitzt und geht. Denn das zeigt mir, wie sehr ich - trotz aller Kritik - an diese Gesellschaft und ihre Optionen noch geglaubt habe. 

Das wäre jetzt vielleicht der Moment, radikal zu werden. Revolutionen zu fordern. Den Kapitalismus abschaffen. Oder so. 

Aber nein. 

Nicht nur, weil ich müde bin.

Ich glaube nicht daran. Das kommt nicht. Kein gutes Leben für alle. 

Man sorgt für sich selbst und die seinen. Zuerst und zuletzt. 

Biedermeier mit und ohne Brandstifter.

Max Stirner ist jetzt mein Mann: "Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht." 

Genau. "Man muss sehen, wo man bleibt." So Sprüche.

So geht "Entteuschung".

Ich kann das. 

Ich übe. 

Ich habe fertig.


Wir machen weiter. Optimismus macht sich breit. Die Sonne scheint, manchmal. Wir werden die Toten nicht beklagen. Diese Toten werden vergessen werden, verdrängt, von uns, so gut es geht, wie jene damals, die an der Spanischen Grippe starben. Denn es sind unsere Toten. Sie gehen auf unser Konto. Das muss man verdrängen. 

"Der Sommer wird gut."




Samstag, 25. Mai 2019

Wochenende-Rant. That´s not me ?

Wie die seit der Pubertät tiefverwurzelte Distanz zum gemeinen Mitmenschen, auch "Zeitgenoss/in/e" genannt, sich bei mir mit zunehmendem Alter verfestigt, beunruhigt mich schon. Denn es gab ja auch Zeiten, in denen ich mich bemüßigt fühlte, den Kontakt/die Kontakte zu vertiefen, mich zugänglicher zu machen - aber, wie Arya Stark in Game of Thrones in einer beispiellos verhunzten letzten Staffel (zugegeben schon Staffel 7 ließ nicht viel Hoffnung, aber die stirbt ja bekanntlich zuletzt), sagt: "That´s not me." Nämlich: Weltoffen, menschenfreundlich, divers und bunt. No, no, no - that´s not me.

Bloß heute mal, so ein beliebiger Samstag, kleiner Spaziergang durchs Netz: 

Auf dem Mount Everest staut sich die Menschenschlange, groteske Fotografien von bunten Funktionskleidungsträgern im höchsten Gebirg, wartend auf die Selfie-Chance vor blauem Himmel, Bucket-List abgehakt, weiter geht's. Kollateral-Schäden inklusive. Sorry, folks, not sorry.

Oder der Tweet von Boris Johnson zum Abgang von Theresa May (Nein, trotzdem, kein Mitleid hier. Denkt an die Windrush-Briten, denkt an ihre Bus-Kampagnen gegen Migranten! Vergesst nicht immer so schnell, Leute!)

Oder die begeisterten, mittelalten, alten Apologeten (my generation!) der Youtuber um @rezomusic, die ihr wohlfeiles Lob über diese jüngere Generation ausschütten. Freu mich schon auf all die Urlaubsfotos von denen ab Mitte Juni bis Mitte Oktober von herrlichen Destinationen rund um den Globus. Denn abenteuerlich muss das Mittelklasseleben bleiben und verbrauchernah. Letzteres vor allem. Denn wir haben uns als kritische Verbraucher was verdient und wollen das auch multikulturell, weltoffen und bunt ausleben (s.o.). (Merkt auf: Ich kritisiere hier nicht die Jüngeren; denen gestehe ich das Vorrecht auf platitüdenhafte Schlichtheit und versimpelnde Radikalität zu. Wer über 40 ist, sollte aber mal ein bisschen Verantwortung übernehmen, statt sich im Recht zu fühlen. Und sowieso: Gefühle sind  soooo langweilig, meine Lieben! Andererseits: Es können halt nicht alle denken, wie schon die alten Denker/innen wussten. Und deshalb: Schreibt's das Internet voller und bleibt öfter mal zu Hause. Könnt's euch ja da bunt machen. Auch keine Lösung?)

Ich bin alt und böse. Das hat auch seine Vorteile. Man hinterlässt mehr Schrammen, als man sich zuzieht, wenn die Karosserie eh nicht mehr ganz heil ist. Kann eine eher mal Karambolage spielen. Aber die Müdigkeit nimmt halt auch zu. Ich lese übrigens nie Thomas Bernhard. Sondern immer eher menschenfreundliche Texte. Trotz allem. Oder deswegen. "That´s not me." Denn nur die Gefühle der anderen (falls die denken könnten) wären nicht langweilig. (Man beachte den Konjunktiv.) Sich kennt man in meinem Alter ja genug. 

Im Grunde, denke ich dann, wenn ich von oben auf mich herabschaue, von der fleckenfrei weißen Decke, ist es ja so: Ich stör mich an der Ästhetik. Dem Prediger-Ton. Den ausschweifenden Gesten. Den trostlosen Anbauten. Dem schnörkellosen Sound. Den Vierteltönen. Diesen bequemen Hosen. Den Zöpfen. Der witzboldigen Humorlosigkeit (Böhmermann!) Dem stillosen Stil. Kein Spirit, nirgends. 

Von hier geht jetzt nix aus. 

.

Andermal?




Samstag, 9. September 2017

DUMMHEIT OHNE POESIE. Und: Wovor ich mich konkret fürchte

avenidas 
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres
un admirador

Eugen Gomringer


Alleen, Blumen, Frauen
und
und?
Ein Betrachter


Keine korrekte Übersetzung ins Deutsche hier. Ein und? mit Fragezeichen. Denn: Man (d.i. der Asta der Alice-Solomon-Hochschule Berlin) liest hinein in die konkrete Poesie, es handele sich hier um die Fortführung einer "patriarchalen Kunsttradition", in der Frauen "ausschließlich schöne Musen sind".

Und? Wenn schon.

Nein, das meine ich, selbstverständlich, nicht so. Wenn Frauen "ausschließlich" schöne Musen sein könnten, dann wäre das nicht schön. Schön ist aber doch, dass und wenn Frauen schöne Musen sein können, auch. Finde ich. 

Wie ist das mit der Konkreten Poesie noch mal gedacht? Die Konkrete Poesie entkleidet die Worte von ihrem semantischen Sinn, ohne freilich damit jemals vollständig erfolgreich sein zu können. Denn die Konkrete Poesie spielt mit den Worten, ihrem Klang, ihrem Zeichencharakter und - ein wenig, ein wenig, trotz alle dem  - mit ihrer Bedeutung. Sie scheitert damit zwangsläufig, je gelungener sie ist, mit jedem Mal, das sie Worte verwendet, an ihrer Konkretisierung. Und darum geht es. 

Und dann:
Alleen (pl.), Alleen (pl.) und Blumen (pl.) 
-as - es
y

Es gibt Alleen und es gibt Alleen und Blumen. Gleichzeitig. In einem Bild? In zwei Bildern, aneinander geschnitten? Alleen- breite, große, belebte, leere, laute, leise? Blumen - kleine, blättrige, blühende, große, kelchige, knospende? Kultur und Natur. Diese Interpretation geht schon zu weit. 

Man muss das auch hören. Auf Spanisch.

Und dann gibt es nochmal Alleen und es gibt Alleen und Frauen. Gleichzeitig. In einem Bild. In zwei Bildern, aneinander geschnitten? Frauen - große, kleine, dicke, dünne, helle, dunkle, kluge, dumme? Kultur und Natur. Diese Interpretation geht zu weit. Man muss zuhören.

Es gibt keine "Frauen und Blumen".

(Denken Sie doch mal darüber nach!)

Es gibt einen Bewunderer. Unbestimmter Artikel. Männlich.
-or
un

Das Gedicht gibt das: einen unbestimmten, männlichen Bewunderer. Zuletzt. Von dem aus schaut die Leserin zurück auf Frauen und Blumen und Alleen. Keine schönen Musen weit und breit. Es bleibt aber ein männlicher Bewunderer nach der Mehrzahl von Frauen und Blumen und Alleen. Niemand sagt, übrigens, dass die schön sind, alle. Steht da nicht. Blumen sind schön, meistens. Und Frauen, oft (Ansichtssache). Aber Alleen? Vielleicht. Manchmal. Blumen und Frauen stehen nicht zusammen, da. Sondern: Ein Bewunderer. Männlich. Es ließe sich lesen: Ein männlicher Bewunderer sieht auf Straßen, Frauen und Blumen. Für männliche Bewunderer seien Frauen und Blumen und Straßen dasselbe oder mindestens auf derselben Schauwert-Ebene. Aber vielleicht auch nur "Straßen und Frauen", denn "Frauen und Blumen" gibt es nicht. Oder umgekehrt? Weil Blumen und Frauen Straßen gleichermaßen "beleben" für den Bewunderer? 

Und wenn?

Wenn es so wäre, wäre das Gedicht Eugen Gomringers ein hochgradig ironischer Umgang mit jener "patriarchalen Kunsttradition", von der der Asta der Hochschule schreibt, - und das Gedicht mithin selbst Kritik an dieser Tradition. (Und an einer männlichen Sichtweise, die die Wahrnehmung von Frauen bewundernd auf ihre äußere Erscheinung, ihren Schauwert einschränkt. Andererseits: Man könnte auch sagen, dass Männern, pl. die Bewunderung für den Schauwert ihrer Erscheinung traditionell allzu oft versagt bleibt. Auch und gerade in der Dichtung.)

Und: Das ist es wohl. Eine ironische Kritik am männlichen Schauen und Dichten. Auch. 

Und aber: Poesie. Konkret.

Es gibt hier keine Verben. Niemand belebt nichts. Niemand liest. Niemand sieht. Niemand denkt. Auch der Bewunderer nicht, Asta.

Es sind Worte. Auf die wir reagieren. Als Betrachterinnen und Leserinnen. Auf ihren Klang, ihre Form, ihre Bedeutung. Aber unsere Reaktionen auf sie und die Worte sind nicht dasselbe. Dass die Worte nicht sind, was sie bedeuten, darauf will die Konkrete Poesie nämlich aufmerksam machen. 

Was hier ganz offensichtlich gleichermaßen gelungen wie gescheitert ist, also sehr konkret, aber nicht poetisch: Der Asta der Hochschule versteht keine Poesie und liest die Worte nicht als Worte. An der Fassade oder sonstwo.

Sondern: Die Tradition. 
Die Klischees. 
Belästigungen von Frauen auf Straßen.
(Wo bleiben die Blumen? Asta.)
Es liest sich selbst. Ins Gedicht hinein. 

Und wenn schon? Das wäre ja weiters nicht schlimm. 

Die Hochschule hat aber entschieden - um des Schulfriedens willen -, das Gedicht auf der Fassade der Alice-Solomon-Hochschule zu übermalen. 

Zensur ist das (noch) nicht. (Weil das Gedicht ja damit nicht verboten ist.) 
Aber es ist dumm. 

Und es gibt guten Grund, die Dummheit* zu fürchten. 
Eine dumme Welt ohne Poesie. 
Konkret.


* Dass die Dummheit im Gewand des Feminismus daherkommt, stimmt mich persönlich besonders traurig.

Donnerstag, 30. Juni 2016

It´s ideology and religion, stupid! - Widerstand gegen den radikalen Islamismus

"Die Attentäter von Istanbul kamen aus Kirgisien, Russland und Usbekistan." Die IS-Kämpfer in Syrien und dem Irak kommen aus Tunesien, Marokko, Syrien, Irak, Tschetschenien, Belgien, Türkei, Großbritannien, Frankreich, Deutschland... Auch in Nigeria, Somalia und Mali kämpfen einheimische Gruppen und Söldner aus vielen Ländern, die sich auf den sogenannten islamischen Staat berufen und dem selbst ernannten "Kalifen" die "Treue" schwören. 

Gegen die Faktenlage (und offensichtlich auch aus Eigeninteresse) halten manche europäische "Linke" dennoch hartnäckig daran fest, die Ursache des islamistischen Terrors sei "mangelnde Integration" und mangelnde Anerkennung von Muslimen im sogenannten "Westen" oder die "Politik des Westens" (der als monolithischer Block wahrgenommen wird) oder die ewige Kränkung der Kolonialzeit, statt die hinter dem Terror stehende religiös begründete Ideologie ernst zu nehmen und zu bekämpfen. Es fällt den ewigen inneren Sozialarbeiter_innen offenbar ganz genauso schwer, die fanatischen Kämpfer des einen und großen Gottes als Subjekte anzuerkennen, wie dem von ihnen verfemten politischen Establishment. Ganz egal, was und wie sich der Terrorist/die Terroristin erklärt: Wir erklären ihm/ihr sich selbst. Als Opfer, selbstverständlich.

Wie sollten nicht einfach zusehen, wie der dümmliche, rückwärts gewandte, geschichtsvergessene wahabitisch-salafistische Islam den innerislamischen Kulturkampf gewinnt: In Frankreich gibt es einen Aufruf von Intellektuellen, dem Islamismus gemeinsam entgegenzutreten.

Freitag, 22. Januar 2016

"Kölner Botschaft" statt #ausnahmlos

"Das autoritäre Klima der frühen Bundesrepublik wurde zu Recht ausgiebig beklagt. Wenn es überwunden wurde, dann nicht, weil man ausgesucht tolerant gegenüber der Rückständigkeit der Provinz, gegenüber den Kirchen und ihren Wertvorstellungen gewesen wäre."


Adam Soboczynski "Bitte nicht stören", in: DIE ZEIT vom 21.01.2016

Ich habe #ausnahmslos, den "Aufruf des progressiven Feminismus", wie "Der Freitag" diese Reaktion auf die Silvesternacht von Köln nennt, nicht unterzeichnet. Obwohl ich - selbstverständlich - ausnahmslos gegen sexualisierte Gewalt, Sexismus und Rassismus bin, egal von wem sie ausgehen.


Wer allerdings sexualisierte Gewalt, Sexismus und Rassismus auch für strukturelle Probleme (patriarchaler) Gesellschaften und Weltanschauungen hält - und nicht nur für individuelle Defekte - , muss sich durchaus Fragen zum sogenannten "soziokulturellen Hintergrund" von Tätern stellen. Das, so würden die Initiatorinnen und Unterzeichnerinnen von #ausnahmslos antworten, bestritten sie in ihrem Text ausdrücklich nicht. Stimmt, einen Satz ist es ihnen durchaus wert. Jedoch hüten sie sich davor, auf den spezifischen soziolkulturellen Hintergrund der Täter von Köln einzugehen. Das hat Gründe. Doch es wäre auch anders gegangen, wie die "Kölner Botschaft" eindrucksvoll beweist, die nicht darauf verzichtet, die konkreten Hintergründe der Kölner Taten zu benennen und die im ersten Absatz eine offensive Position - die der Liebe zur eigenen Stadt -  vertritt, die es - gegen die Täter von Köln, die Pegida-Aktivisten, Nazi-Apologeten und Dschihadisten - zu verteidigen gilt. Anders #ausnahmlos", das die Taten von Köln in den Kontext der sogenannten "whatabouts" stellt, wie Adam Soboczynski das im oben zitierten Artikel nennt: was ist denn mit...Übergriffen von Deutschen auf dem Oktoberfest, was ist denn mit...sexistischer Werbung auf deutschen Plakatflächen, was ist denn mit...mädchenverachtenden Mathelehrern an deutschen Schulen etc. pp. Die Taten von Köln - nichts Besonderes, besonders nicht in Deutschland? Oder habe ich da was falsch verstanden?

Aus einer großen Menge von überwiegend aus nordarabischen Ländern stammenden jungen Männern heraus wurden in der Silvesternacht vor und im Kölner Hauptbahnhof Frauen umzingelt, eingeschüchtert, geschmäht, begrapscht und vergewaltigt. Polizeibehörden, Politiker_innen und wohl auch einigen Medien erschienen die Aussagen der Opfer offenbar in der gegenwärtigen, durch den rechten Mob aufgeheizten Situation problematisch. Vielen Feministinnen, wie es scheint, ebenso. Unmittelbar nachdem erste Zeitungsberichte über die Nacht von Köln in den Medien erschienen, wurden in den sozialen Netzwerken die Aussagen der betroffenen Frauen auch von "progressiven Feministinnen" in Zweifel gezogen: Ob es wirklich vor allem sexuelle Übergriffe und nicht doch vor allem Eigentumsdelikte gewesen seien, woran denn die Frauen überhaupt "Araber" hätten erkennen wollen, wurde zum Beispiel gefragt.  Als sich nach der Veröffentlichung von Polizeiberichten nicht mehr leugnen ließ, dass die Übergriffe mehrheitlich von Tätern begangen worden waren, die aus Marokko und Algerien stammen (die Beobachtungen und Einschätzungen der betroffenen Frauen also bestätigt wurden) setzte die Flut der "what about"-Fragen ein. Die größte Gefahr einer öffentlichen Diskussion über die Vorfälle von Köln war nämlich schnell erkannt: Dass die kriminellen Taten von Köln dem tatsächlich in Deutschland derzeit grassierenden Rassismus in die Hände spielen könnten und der Stimmungsmache gegen Flüchtlinge dienen würden. Ich verstehe diese Sorge gut. Aber ich teile die Einschätzung nicht. Dem Rassismus und der Menschenfeindlichkeit in die Hände spielt mindestens genauso sehr eine fragwürdige "linke" und/oder "feministische" Toleranz gegenüber bestimmten Milieus und eine rhetorische und sachliche Unschärfe, die Differenzen einebnet, erstrittene gesellschaftliche Fortschritte leugnet und Befremden und Fremdheitsgefühl bei den einen mit geradezu paternalistischem Verständnis (Einwanderern) begegnet  und bei den anderen (Einheimischen) als Rassismus brandmarkt.

Wenn es um die Täterschaft aus einem christlich-katholischen Milieu heraus geht, wird - zurecht! - nicht in ähnlicher Weise reagiert. Niemand betont dann unentwegt, dass auch evangelische oder muslimische Menschen Gewalt gegen Kinder verüben. Vielmehr ist es richtig und wichtig zu analysieren, inwiefern die (zum Teil auch sexualisierten) Gewalttaten gegen Kinder bei den Regensburger Domspatzen offenbaren, dass in der katholischen Kirche und im katholischen Milieu über lange Zeit und zum Teil bis heute (darauf lassen auch jüngste Äußerungen des derzeitigen Papstes schließen) Gewalt gegen Kinder begünstigt worden ist. Die Ursachen für diese Gewaltaffinität und -rechtfertigung liegen auch in der Religion, in bestimmten theologischen Interpretationen biblischer Texte, in einem patriarchalen Familienideal, das als "christlich" verstanden wurde und wird. 

Es dürfte wohl kaum eine der Aussage widersprechen, dass alle drei monotheistischen Religionen patriarchale Denkmuster begünstigt, stabilisiert und verHERRlicht haben und diese ("Wert"-) Vorstellungen bis heute wirksam sind. Daher ist Religionskritik, auch sehr scharfe, weiter nötig und unter dieser selbstverständlich auch "Islamkritik". Kritik an Religionen mit Wahrheitsanspruch ist nämlich kein Rassismus, sondern Voraussetzung für gesellschaftliche Pluralität, Liberalität und Toleranz.

Kein gesellschaftlicher Fortschritt für Frauen, Homosexuelle oder Kinder, keine gesellschaftliche Ächtung von (sexualisierter) Gewalt  - wie immer mühsam, fragil und faktisch unbefriedigend errungen -  wurde durch die religiösen (hier: christlichen) Institutionen und/oder Gruppierungen erzwungen oder herbeigeführt, sondern fast immer gegen sie: ob es um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung in und außerhalb der Ehe, das Recht der Frau auf die Entscheidung über Abtreibung oder die Akzeptanz von Homosexualität ging. Dass auf diesen Gebieten Fortschritte erreicht wurden, verdanken "wir" nicht dem "christlichen Menschenbild", sondern dem Zurückdrängen des Einflusses der religiösen Institutionen auf Gesellschaft und Politik. Immer mehr Menschen gestalten ihr Leben, ohne sich durch religiöse Überzeugungen leiten zu lassen, manche bleiben sogar Mitglied ihrer jeweiligen Kirchen, ohne jedoch im Alltag deren "Ratschlägen" oder "Geboten" Beachtung zu schenken. Empfängnisverhütung oder Sex vor der Ehe sind nur die offenkundigsten Beispiele. 

Ja, es gibt in Deutschland sexistische Werbung, sexistische verbale Übergriffe, sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen. Aber Männer und Frauen können in der Regel heutzutage selbst entscheiden, mit wem sie Sex haben wollen, mit wem sie zusammenleben möchten und ob sie eine Ehe als Voraussetzung für sexuelle Beziehungen betrachten. Die Vergewaltigung in der Ehe ist seit 1994 strafbar. Es gibt keine gesellschaftliche Ächtung außerehelicher sexueller Beziehungen mehr, die Ehre einer Frau wird nicht mehr von ihrer Jungfräulichkeit vor der Ehe abhängig gemacht und auch die Diskriminierung von Homosexuellen is gesellschaftlich nicht mehr mehrheitsfähig. Das ist nicht selbstverständlich, sondern schwer erkämpft. Ich finde es fahrlässig, diese Fortschritte klein zu reden. Diese Errungenschaften (ja, ich nenne sie mal so!) können nur verteidigt werden, wenn der Einfluss des "religiösen" Institutionen (Kirchen, Islamverbände) auf Gesellschaft, Kultur und Politik nicht wieder zunimmt. Die christlichen Kirchen nämlich haben ihre patriarchalischen Positionen bestenfalls modifiziert oder geräumt, wenn sie längst nicht mehr mehrheitsfähig waren. Andernorts, wo die Mehrheitsverhältnisse anders sind, setzt  sich z.B. die katholische Kirche  weiterhin für die Pathologisierung der Homosexuellen ein oder verhindert Verhütung etc. ppp. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass der Einfluss des organisierten Islam in Deutschland (z.B. durch die  sogenannten Islamverbände) auf die Gesellschaft (und insbesondre die Sexualmoral) positiver wäre.  

Vor diesem Hintergrund finde ich es unerträglich, wenn linke Bekannte und Freunde jetzt z.B. Postings auf Facebook absetzen, die dazu aufrufen, das kriminelle Verhalten der Täter von Köln "mit dem Islam, statt gegen ihn" zu bekämpfen. Schließlich hätten die Täter ja selbst gegen ihre (?) Religion verstoßen, da sie alkoholisiert gewesen seien. Soll ich ernsthaft mit freundlichen, wie die "taz" lustigerweise schreibt, "zutraulichen"  Imamen gemeinsam Abstinenz von Jugendlichen einfordern, obwohl ich selbst gern Wein und Bier trinke und das religiös begründete Verbot für Unsinn halte? Werden "wir" dann bei einer Vergewaltigung oder einem sexuellen Übergriff in Zukunft im Verein mit katholischer Kirche, evangelikalen Freikirchen und Islamverbänden für die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe eintreten, weil wir hoffen, potentielleTäter (muslimische und/oder christliche) so "erziehen" zu können, ohne sie "umzukrempeln", wie die "taz" es so schön formulierte. In meiner Gewerkschaftszeitung finde ich einen Artikel, der um einen verständnisvollen und "interkulturell sensiblen" Umgang mit der verbreiteten Praxis von Familien aus dem "muslimischen Kulturkreis" wirbt, Frauen aus der Öffentlichkeit fern zu halten. Diese "Rücksichtnahme" auf religiös und/oder kulturell "muslimisch" begründete Missachtung des individuellen Rechts von Frauen und Mädchen, aber auch von Männern und Jungen auf Selbstbestimmung lässt gerade jene im Stich, die wohl aus einem "muslimischen" Kulturkreis stammen mögen, sich aber kritisch zu diesen Traditionen stellen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich behaupte gerade nicht, dass hinter den Verbrechen von Köln religiöse Motive stecken. Tatsächlich gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass es sich bei den Tätern um religiös inspirierte Menschen handelte (ganz im Gegensatz zum Beispiel zu den islamistischen Terroristen, deren religiöse Motivation man m.E. durchaus ernst nehmen muss). Ich bin nur davon überzeugt, dass die monotheistischen Religionen (und damit eben auch der Islam, gleich welcher Prägung) kaum Hilfestellung bei der Prävention solcher Taten anbieten können. Zu - freundlich ausgedrückt - problematisch ist deren Geschichte des Umgangs mit Geschlecht und Sexualität, zu rückständig noch immer in den dominierenden theologischen Strömungen deren Sexualmoral und Familienideal. 

Die Feministinnen, die #ausnahmslos initiiert haben, aber auch viele Linke behaupten, dass der Schock und die mediale Beachtung, die die Verbrechen von Köln gefunden haben, ausschließlich darauf zurückzuführen sind, dass  "Fremde" als Täter aufgetreten sind. Daher ließen sich diese Taten von Rassisten instrumentalisieren. Dem wollen sie vorbeugen. Das ist ehrenwert. In Wahrheit, behaupten sie, handele sich um Tatvorgänge, wie sie in Deutschland immer wieder vorkämen. Sexismus und sexualisierte Gewalt seien strukturelle Probleme, die mit keiner bestimmten Tätergruppe verbunden seien. So allgemein formuliert stimmt das. Es stimmt aber nicht, wenn man die Übergriffe von Köln genauer analysiert. Was viele Menschen, auch jene, die sich nicht durch rassistische Hetze instrumentalisieren lassen, an diesen Taten verstört ist, ist die öffentliche, gemeinschaftliche Hetzjagd auf Frauen. Das hat es so meines Wissens in den letzten Jahren in Deutschland nicht gegeben. Eben auch nicht auf dem Oktoberfest, in Kirmeszelten oder Fußballstadien. Dort gibt es sexistische Sprüche zuhauf, unangenehme Anmache, Angrabschen und es kommt im Umfeld solcher Veranstaltung zu Vergewaltigungen. Was ich noch nie bei einer solchen Veranstaltung erlebt habe, ist,  im öffentlichen Raum umzingelt zu werden, Spießruten laufen zu müssen und keine Hilfe von Ordnungshütern zu bekommen. Anders als viele mir bekannte Unterzeichnerinnen von #ausnahmlos bin ich zum Beispiel jahrelang zu Bundesligafußballspielen ins Stadion gegangen. Sexismus gibt es da zuhauf. Und er ist widerwärtig. Aber eine Situation wie in Köln habe ich dort nie erlebt. Deshalb finde ich es wichtig, den Schock über die Silvesternacht in Köln, den sehr viele Menschen empfunden haben, ernst zu nehmen und nicht als rassistischen Affekt zu brandmarken. 

Einige Frauen aus dem arabischen Kulturraum haben nach den Übergriffen von Köln eine Parallele zu den organisierten Vergewaltigungen auf dem Tahrir-Platz in Kairo gezogen, andere haben diesen Zusammenhang vehement bestritten. Slavoj Žižek hält die Übergriffe für einen "obszönen Karneval der Underdogs". Andere gehen davon aus, dass es sich im Wesentlichen um organisierte Diebesbanden aus Marokko und Algerien gehandelt habe, deren "Antanz- Methode" in einer sexualisierten Variante in dieser Nacht aus dem Ruder gelaufen sei. Seit Dezember steigt die Zahl der aus Marokko, Algerien und Tunesien stammenden Antragsteller auf Asyl stark an. In keinem dieser drei Länder herrscht Bürgerkrieg. Für die allermeisten der Antragsteller gilt wohl auch, dass sie keinen Anspruch auf politisches Asyl haben. Die Sorge, dass kriminelle junge Männer aus Algerien und Marokko das europäische Chaos in der Flüchtlingspolitik ausgenutzt haben, um nach Deutschland einzureisen, ist nicht unbegründet. 

Es ist schwierig, in dieser Gemengelage herauszufinden, was im Einzelnen zu den Taten von Köln geführt hat. In den Augen der jungen Männer waren "westlich"gekleidete Frauen, die nachts feiernd unterwegs sind, scheinbar "Freiwild". Es spricht viel dafür, dass es sich um eine Tätergruppe handelt, die - wie man so sagt - wenig zu verlieren hat und ihren niedrigen sozialen Status durch rücksichtslose Gewaltausübung und Respektlosigkeit zu kompensieren sucht. Dazu kommt ein "soziokultureller Hintergrund" aus einer zutiefst patriarchalen Kultur, in der "die Ehre" von unverheirateten Frauen daran gemessen wird, dass sie sexuell nicht aktiv sind, ihre Körperlichkeit verbergen und sich den Männern in ihrer Familie unterordnen. Frauen, die sich dem entziehen, werden geächtet und sollen bestraft werden. Es geht wohl bei solchen Taten und in den Tätergruppen darum, die eigene Erbärmlichkeit weniger zu fühlen, indem andere, vornehmlich Frauen, gedemütigt und unterdrückt werden. Diesem Bedürfnis liefert eben ein Teil der "arabischen Kultur" zwei passende Narrative: Die "Underdogs" können sich einerseits als späte Opfer einer fremden kolonialistischen Invasion begreifen, zu deren Lasten ihre Perspektivlosigkeit noch immer geht (statt sie - mindestens auch - auf das politische und ökonomische Versagen der arabischen Eliten in den letzten 50 Jahren zurückzuführen). Andererseits leiten sie aus der Identifikation mit "dem Islam" eine dem Opfersein diametral entgegengesetzte totalitär empfundene Überlegenheit über die "dekadente" westliche Lebensweise ab (statt eine kritische Auseinandersetzung mit den als" islamisch" empfundenen Traditionen zu führen). Derart gespaltene Selbstbilder (zwischen Opferstatus und Überlegenheit) münden nicht selten in brutalen Gewaltausbrüchen. Eine religiös begründete, rigide Sexualmoral begünstigt darüber hinaus Scheinheiligkeit, Doppelleben und sexualisierte Gewalt gegen Frauen und Kinder. Das war (und ist)  in christlich geprägten Gesellschaften so und das lässt sich ebenso in muslimisch geprägten Gesellschaften und Milieus beobachten. 

Was also tun? Die "Kölner Botschaft" fasst es meines Erachtens gut zusammen: 
1. Ja, sexualisierte Gewalt und Sexismus sind #ausnahmslos bekämpfen. 
Aber auch(!):
2. Bandenkriminalität muss unterbunden werden. Dazu gehört auch die Abschiebung von Kriminellen aus Algerien und Marokko in ihre Heimatländer. Denn es ist dieser multikulturellen Gesellschaft nicht zumutbar, dass diese Länder ihre Jugendkriminalität hierher exportieren. Das schadet nicht zuletzt den vielen Zuwanderern aus Marokko und Algerien, die schon lange gesetzestreu hier leben.
3. Die Polizei stärken, indem das Versagen der politischen und administrativen Führungsebene in der Kölner Silvesternacht schonungslos aufgeklärt wird.
4. Ein offenes, gastfreundliches Land bleiben (oder werden), in dem Fremdenfeinde und nicht Fremde geächtet werden und in dem die Werte, die im Grundgesetz dargelegt sind, allen Zuwanderern vermittelt werden als jene, auf die die Gesellschaft, deren Schutz sie suchen, zu Recht stolz ist (in dem Bewusstsein, dass ihre Realisierung eine stete Aufgabe bleibt).

Samstag, 29. August 2015

#bloggerfuerflüchtlinge Jede/r kann helfen!

Die Antwort der Europäischen Union und der Bundesregierung auf das Drama der Vertriebenen, die nach Europa unterwegs sind, lautet weiterhin: "Schleuser" bekämpfen, Grenzen undurchlässiger machen und - irgendwie, irgendwann, nur nicht zu Lasten der Export-Rüstungsindustrie - "Fluchtursachen" bekämpfen. Der Zynismus hinter diesen Verlautbarungen ist kaum zu überbieten. Eine Flug nach Kroatien mit einer Billigfluglinie kostet weniger als € 50. Die Reise nach Budapest, der Hauptstadt eines EU-Mitgliedstaates,  mit dem Linienbus ist für € 30 zu buchen. Die Vertriebenen zahlen pro Kopf zwischen € 1000 und € 1500 für dieselben Strecken in umgekehrter Richtung. Es ist die politische und juristische Realität Europas, die die Fliehenden kriminalisiert, die das Geschäft der Schleuser macht.  Dublin II, dieses böswillige Konstrukt zur Sicherung der "Festung Europa" und der Besitzstandswahrung der wohlhabendsten Mitgliedsländer, das ist die gute Nachricht im Schlimmen, ist unübersehbar gescheitert. 

Doch die Konsequenzen bleiben aus. Der Wahnsinn, der Menschenleben kostet, jeden Tag, wird fortgesetzt. Wer dagegen spricht, muss sich Unvernunft vorwerfen lassen, "Gutmenschentum" und soll gefälligst weniger Herz und mehr Verstand zeigen. Aus dem irren Diskurs scheint es kein Entkommen zu geben, denn die Leugnung der Realität, das Beharren auf dem, was offensichtlich nicht geht und nichts bringt als mehr Leid und Tod, die mitleidlose Beschwörung einer Vernunft, der nichts rational ist als der eigene, kurzfristigste Vorteil - all das ist an der Macht! Und bleibt auch da, denn jede/r weiß doch: "Wir" können nicht das Sozialamt der Welt sein. Diese NPD-Propaganda klingt an, wo immer derart "vernünftig" in die Mikrofone gesprochen wird. Diese "Vernunft", selbst wenn sie sich vom Rassismus der Hassprediger in Heidenau und anderswo scharf distanziert, befindet sich doch in einem heimlichen Pakt mit dem "Pack". Denn die Bilder, die jeden Tag das Versagen dieser Politik anzeigen (die überfüllten Turnhallen und Zeltlager, die gehetzten Menschen an den Grenzübergängen, die Toten in den Lastwagen und Booten auf dem Mittelmeer), werden ja nicht zum Auslöser einer Politikwende, sondern zur Bestätigung und Fortsetzung des Wahnsinns genutzt.

Dagegen gilt es Flagge zu zeigen. Jede/r und jede kann jetzt helfen. Ganz direkt durch Sach- und Geldspenden, durch Sortieren der Spenden bei den Sammelstellen, durch Begleitung von Vertriebenen auf Ämter, durch Übernahme einer Vormundschaft und und und... Jede/r hat unterschiedliche Ressourcen. Ein bisschen was geht immer! Es geht aber auch darum, am Arbeitsplatz, in öffentlichen Räumen, im öffentlichen Verkehr, überall, wo Menschen unterwegs sind, dem Unverstand, der Dummheit und Herzlosigkeit etwas entgegenzusetzen, den Rassisten und Egoisten nicht den öffentlichen Raum zu überlassen, sich ihnen entgegenzustellen, wo immer sie sich versammeln, pöbeln, dumme Sprüche klopfen und Menschen bedrohen. Auch auf die Sprache kommt es an: "Pack, Vertriebene und die verunsicherte Mitte" von Anatol Stefanowitsch.

All das ist auch Politik. Trotzdem reicht es nicht: Der Diskurs des Wahnsinns muss durchbrochen werden: 



Asylanträge in den Botschaften und Konsulaten im Nahen Osten und in Afrika, sichere Reisewege finanzieren statt Frontex und "Schleuserbekämpfung", Verkürzung der Verfahren  für alle die aus Kriegsgebieten kommen und - unabhängig davon - ein Einwanderungsgesetz, das Zuzug legal ermöglicht,  ohne Asylverfahren. 


Blogger für Flüchtlinge ist eine Initiative von Nico LummaStevan PaulKarla Paul und Paul Huizing. Sie rufen alle auf:
Wenn Sie aktiv helfen möchten, gibt es viele Möglichkeiten!
Auch Pro Asyl informiert, wie jede/r MITMACHEN kann.

Donnerstag, 16. Juli 2015

OXI - Wenn nichts mehr geht...


Schäuble sei eben, höre ich, ein Jurist. Die Einhaltung der Regeln ihm deswegen geradezu Herzensangelegenheit. Es ist bei dieser Einlassung, wohlgemerkt, von jenem Herrn die Rede, der im Köfferchen nach gutem Speisen in trauter Waffenhändlerrunde 100.000 DM in bar annahm, durchaus regelwidrig. Das ist allerdings nur, was wir wissen, weil es unter Druck gestanden wurde.  (WIR - plurales majestatis - erinnern uns hierbei unwillkürlich an die grausliche Szene aus Kafkas Brief an den Vater, in der der bei Tisch Nägel schneidende und Ohren putzende, schmuddelnde Vater dem Kinde Tischmanieren beibringen will. Die Welt, in der wir leben, ist, wissen wir schon lange, durchaus kafkaesk). Indes bewundern die meisten am meisten derartige Heuchler und Minderleister in Macht und/oder mit Geld. WIR dagegen wundern uns längst nicht mehr über die Mächtigen, desto mehr graut uns vor ihrem beifallklatschenden Sklavenvolk, das sich in den Kommentarspalten von spon und faz und vor den Asylbewerberunterkünften tummelt.) 

Freilich hat ein jeder und eine jede, auch der Herr Schäuble, nach vollzogenem Rechtsbruch und moralischem Versagen eine zweite, ja ich sage, gar dritte oder vierte Chance verdient (Die brauchen wir doch alle.) WIR können im Falle dieses seit Jahren resozialisierungsverweigernden Menschen allerdings keine Einsichtsfähigkeit erkennen. Der Herr erzählt mit Stolz von seinen Verbrechen: als "Architekt der deutschen Einheit". WIR erinnern uns - schaudernd - an die "Treuhand" (Orwell lässt grüßen. - Sowieso ist´s mir, als übertrumpfe die Phantastik der "powers to be" und ihrer symbolischen Ordnung jeden fiktiven Schein.) Selten trifft eine auf Menschen, deren Weltbild und -anschauung über Jahre so konsistent ist und bleibt, wie das des Herrn aus dem Badischen. Seine Koordinaten sind klar: Er richtet nicht nach Recht und Gesetz, sondern nach "für oder gegen Deutschland", wobei er mit dem Land eben jenes meint, das seines ist und meines niemals wurde, seit 1989 nicht mehr, nicht einmal mehr kritisch. Ich lebe hier nur. Mit andern. 

Schäubles Deutschland dagegen ist jenes von den hinter der CDU/CSU stehenden Kapitalinteressen (Spender, Spender!) und zutiefst konservativen, um nicht zu sagen reaktionären Wertvorstellungen ("christliche" Kernfamilie, abwesender erwerbstätiger, verantwortungsscheuer Vater, treu sorgende, faktisch alleinerziehende Mutter, homophob, nationalistisch, chauvinistisch) geprägte Land, das Fremde und Fremde bestenfalls (aber nicht um jeden Preis!) duldet und diese Duldung Toleranz nennt. Für die wohl verstandenen Interessen dieses Sch´land ist ein Rechtsbruch allemal gerechtfertigt. Denn das Recht hat dem Sch´land zu dienen.

Es verlohnt sich eigentlich nicht, dem Herrn Schäuble einen Blogpost zu widmen. Der Dreckarbeiter (nie mussten WIR so tief in die Kloake, obwohl WIR so manches Klo putzten) ist ja nicht allein und nicht mal besonders abstoßend. Er steht halt nur grade am Pranger und um so verdächtiger macht sich, wer mit der Masse auf ihn eindrischt. Wie also WIR hier. Und dennoch: Manche, nicht wenige sähen ihn gern als Kanzler und schreiben das auch, wo immer wir´s nicht lesen wollen. Das wird selbstverständlich nicht passieren, geschenkt. Steht aber für was: Für die Sehnsucht nach dem "harten Hund", der nicht nur hinter den Kulissen durchsetzt, was eben durchgesetzt werden muss (dazu hat auf ihrer Titelseite heute auch noch mal die gute, alte Tante "ZEIT" den Spaniern die Leviten gelesen: Links wählen und abkassieren...., geht nicht! Wählt was wir euch sagen - oder seht zu, wie wir a) euch die Luft abschnüren und b) die von euch Gewählten entweder zum Rücktritt zwingen oder vor euren Augen in unsere Marionetten verwandeln.) Es reicht halt manchem und mancher jetzt nicht mehr, dass die Politik der gigantischen Umverteilung von Unten nach Oben vollzogen wird, nein, man will das nicht länger heimlich tun müssen. 

Unser Kampf gilt nicht Schäuble. Ein Schäublexit hilft nix. Wir können auch nicht wählen. Nichts anderes. Eine deutsche Sozialdemokratie gibt es längst nicht mehr. Die Grünen trügen und tragen - mit eifrig inszenierten Bauchschmerzen - noch jedes Abkommen mit. Und wählten wir die LINKE, so erlebten wir eine Variante dessen, was wir erlebt haben (Ypsilanti, Tsipras...). Erinnern wir uns: Niemand im Europäischen Rat hat je grundsätzlich das Vertrauen in Urban verloren oder ekelte sich öffentlich vor Herrn Berlusconi.  Zum Beispiel. Man wird zur Not auch mit Madame Le Pen speisen. Das sind die Eliten, die uns regieren, und ihre Benimmregeln. Hinter ihnen stehen die, die sie beherrschen. 

Ich weiß keine bessere Welt. Und keine schlechtere. Es gibt keine Hoffnung, nutzen wir sie! Von unten: Kooperativen. Genossenschaften. Bedingungsloses Grundeinkommen. Versuchslabore gegen die Politik der Angst und des "Keine Experimente!"




Eine Wahrheit über mich (ganz ohne Majestät) ist allerdings, 
dass ich mich im Kampfmodus nicht leiden kann. Und daher Schlachten meide.