Freitag, 20. September 2019

DER NIEDERGANG DES FRAUENHELDEN (Drei Sabinen)

Zur Erinnerung (denn - offensichtlich - mache ich weiter mit diesem "Roman" - den "Drei Sabinen")

Drei Sabinen
Der mythologische Hintergrund: Der Raub der Sabinerinnen, die sich – angeblich – von ihren Räubern und Vergewaltigern zu Liebe und Ehe „überreden“ ließen? Vom Leben in Welten, in denen Männer Frauen haben und brauchen, besitzen und begehren, beherrschen und behüten. Und wie Frauen dort leben, in diesen Welten, sich wehren, betrügen und intrigieren, lieben und verraten, sich befreunden und beraten. Und wie solche Welten ins Wanken geraten, beizeiten, beiläufig, verheerend. 

Die Zeitebenen: Die 70er und 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die Gegenwart (um 2016 folgende). Noch weiter zurück: Line Leuchte/Nachkrieg (doch das ist eine andere Geschichte!).

Der Ort: Haselberg in der hessischen Provinz

Das bisherige Personal:
Die KlassenkameradInnen:
- die Bohnenstangen-Sabine, später Sabia Hart, erst verklemmt und verschlossen, später mondän und weltläufig 
- die Rapunzel-Sabine, zunächst verschollen, irgendwo in der Metropole
- die kleine Sabine, ansäßig, verheiratet mit dem Norbert, ebenfalls schon immer ansäßig Reisebüro-Mitinhaberin
- der Claus, früher mollig und gescheit, heute schlank und durchtrieben, Provinz-Politiker
- die Kerstin, nüchtern und gediegen, verheiratet mit dem Richter
- der schöne Klaus, Kerstins bester Freund
und
„Wir“  (die Klatsch- und Tratsch-Gesellschaft)

- der Pianist, Sabia Harts Teilzeitgeliebter, ein Mann, „der die Frauen liebt“
- ein Starlet, die Mutter des Claus
- Markus, der schwule Friseur, den die Sabia liebte

Was bisher geschah:
- die Rapunzel-Sabine, die mysteriös verschwunden war (womit irgendwie der Claus etwas zu tun hatte) taucht auf Facebook wieder auf; den Claus beunruhigt das:
- die Sabia, die früher eine hässliche Bohnenstange war, erscheint als Geliebte des berühmten und berüchtigten Pianisten mal wieder in der alten Heimat; der Pianist macht sich an die spröde Kerstin heran und weckt die Eifersucht der Sabia:
"Du Teufel" (Hart kämpft 2)
"Only date Gentleman" (Hart kämpft 3)
- die kleine Sabine ist SocialMedia-affin und macht, was der Norbert von ihr will, während der Norbert macht, was der Claus will, obwohl er nicht kapiert, worum es geht
- der Claus spinnt Intrigen analog und digtial, aber man weiß nicht, wovor er Angst hat, außerdem erfährt man, was er früher über seine Mutter, das Starlet, erzählt hat, die vielleicht in der Hauptstadt ein Porno-Star geworden ist

(- alle Sabinen, so weiß man, waren mal in den schönen Klaus verliebt, aber das ist lange her)




***

Wir waren von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Dem Augenschein vertrauend hatten wir angenommen, es sei die herbe Kerstin, die in diesem bösen Spiel, das der Pianist angezettelt hatte, das Opfer werden würde. Doch das kam ja ganz anders. Am Ende war es nicht einmal die Sabia, die am meisten zu leiden hatte, sondern er, der Schwerenöter, der Mann, der die Frauen liebte, der elegante und eloquente Schmierenkomödiant, als der er uns erschien, während andere ihn, wie wir wohl wussten, verehrten gerade für jene Imitation eines schon vor einem Jahrhundert ausgestorbenen Gentleman-Typs, die er ablieferte, in seinen Safari- oder Nadelstreifenanzügen, mit gestärkten Hemdenkragen und kunstvoll geschlungenen Krawatten, seinen seidenen Einstecktüchern und seinem Borsalino mit dem flotten Bändchen. Nur wenn man auf die Schuhe hinabsah, offenbarte sich das Verkommene dieser verjährten Lässigkeit. Er trug Budapester, selbstverständlich, doch selbst die besten Schuhe kommen in ein Alter, in dem sie nur noch abgelaufen aussehen. Wir wunderten uns, denn es hieß, er sei gut im Geschäft, Auftritte auf den bedeutendsten Bühnen und in den arriviertesten Konzertsälen waren auf seiner Homepage verzeichnet. Allerdings eben auch zwischendrin immer wieder jene Gastspiele in der Provinz, deren eines ihn in unsere Gegend, in die Heimat der Sabia, ehemals Bohnenstangen-Sabine, verschlagen hatte. Der Lebensstil des Pianisten, wahrscheinlich, so nahmen wir an, war dafür verantwortlich, dass es manchmal knapp wurde bei ihm; man munkelte, er habe keinen festen Wohnsitz, er belege ganzjährig eine Suite im 5-Sterne-Hotel in der Hauptstadt, nun ja, das kostete natürlich.

Der Pianist hatte sich zweifellos auch einen anderen Ausgang seines Spieles erwartet, vielleicht sogar keinen Ausgang, sondern ein fortwährendes Drama, in dem sich der 3. Akt immerzu wiederholte, die Heldinnen einander, begleitet von schauerlichem Tremolo, an die Gurgel gehen, im unerbittlichen Kampf um den Mann. Das war sein Traum gewesen, so nahmen wir an. Allerdings imaginierte er sich eben nicht als ein Stück männlichen Fleisches, das sie zwischen sich zerrissen in ihrer penthesileischen Gier, sondern vielmehr als einen auf einem Throne sitzenden Richter, dem sie sich zu Füßen warfen und um dessen wechselnde Gunst sie flehten, während er sich einmal von oben herab der einen, dann wieder der anderen zuwendete, lechzend nach den Wunden, die sie einander, wie er hoffte, zufügen würden. Es kam aber nicht so. Sie kämpften nicht, sie brachten ihm keine blutigen Wunden dar, an denen er sich laben konnten, sie kratzten nicht und schrien nicht und intrigierten nicht. 

Die Sabia war bereit. Sie hätte ihm mit Freuden alles geboten, was er sich wünschte und mehr. Sie hatte es bei anderer Gelegenheit bereits bewiesen. Die Sabia hatte gelernt von klein auf, dass sie geliebt wurde, wenn sie sich selbst erniedrigte, oder sie hatte gelernt, zu glauben, dass es Liebe war, die sie sich erniedrigen ließ. Sie war bereit. 

Doch Kerstin? Kerstin war eine Frau, bei der sich der Pianist vergriffen hatte. Auch wir hatten dies nicht geahnt. Auch wir hatten vermutet, sie werde ihm nicht standhalten können. Denn wir wussten oder glaubten es zu wissen, wie sehr es ihr an Erfahrung mangelte, mit Typen wie ihm, überhaupt mit Typen. Den Pianisten hatte sein Instinkt vollständig verlassen, als er Kerstin auswählte. Doch nehmen wir im Rückblick nicht länger an, dass er sie wählte. Er wählte ihren Begleiter, er wählte, dass sie eine begleitete Frau war, begleitet von einem Mann, den er für satisfaktionsfähig hielt, aber besiegbar. Er schätzte den anderen Mann ab, nicht die Frau. Die Blicke des anderen Mannes verliehen Frauen den Zauber, der ihn, den Pianisten, betörte, an dem er sich berauschte. Dass die Frau von einem anderen begehrte wurde, dem er sie streitig machen konnte, zog ihn unwiderstehlich an. 

Aber als er Kerstin an jenem Abend von seinem Bühnenplatz aus in der ersten Reihe die Beine übereinanderschlagen und sich ihrem Begleiter zuwenden sah, täuschte er sich vollkommen. Jene Zärtlichkeit, jene Aufmerksamkeit, die der Begleiter Kerstin entgegenbrachte, war nicht mit dem Begehren verbunden, das der Pianist als einzige Beziehungsbasis zwischen einer Frau und einem Mann kannte. (Außer der Mutterschaft, freilich, doch davon wird noch die Rede sein.)

Der Niedergang des alternden Frauenhelden begann an diesem Abend, an dem gerade er sich so auf der Höhe seines Könnens wähnte. Aber auch wir sahen es ja nicht. Sahen eine ganz andere Katastrophe voraus, Scheidung und Hausverkauf, einen sich verdrückenden Richter, einen erschütterten schönen Klaus. Und Kerstin, verloren und gerichtet, sich die Haare raufend in der Rückschau über ihre Naivität, ihre Treulosigkeit, ihre Verfehlung. Das kam nicht so. Auch der Sabia prophezeiten wir an jenem Abend bittere Tränen. Doch ein anderer sollte weinen, krächzen, seine Stimme verlieren, sein Gehör, seine seidene Geschmeidigkeit. Den Schlussakkord des Trauerspiels, das uns allerdings, zugegeben, eine Tragikomödie war, hörten wir dann nur aus der Ferne noch, nachhallend. 

Drei Jahre und sieben Monate nach diesem Abend wurde der Pianist, der ehemals berühmte, wie es hieß, tot in einer Pension in der Kleinstadt B. aufgefunden. Schon lange habe er, so schrieb man, keine Konzerte mehr gegeben. Vereinsamt und mittellos waren Worte, die vielfach benutzt wurden. Die Todesursache blieb in den Berichten unerwähnt. Wir nannten es unter uns „Auszehrung“, ein veraltetes Wort, das uns bei der Gelegenheit wie auf der Zunge zerging.

Wir setzten alles in Bewegung, um herauszubekommen, wie das zugegangen war. Doch eine Quelle aus erster Hand stand uns nicht zur Verfügung. Kerstin schwieg. Wenige Monate nach jenem Abend nahm der Richter ein Sabbatjahr und Kerstin begleitete ihn auf seinen Reisen, die sie selbstverständlich bei der kleinen Sabine buchten. Es zog sie ans Nordkap und später fuhren sie mit der Sibirischen Eisbahn, sie waren in Jerusalem und am Toten Meer, kletterten auf die chinesische Mauer und tauchten in Australien. Nur hin und wieder wechselten sie die Kofferinhalte in Haselberg. Wir sahen sie nie. Nach diesem Jahr wurde der Richter befördert und sie verkauften das Haus am Kirchberg an einen Zugezogenen. Kerstin ließ sich selten blicken bei uns danach. Nur der schöne Klaus hatte noch regelmäßig Kontakt zu ihr. Doch wir erfuhren nichts von ihm, so sehr wir uns auch bemühten. Die kleine Sabine gab als Letzte auf, ihm schöne Augen zu machen. So blieb uns nur die Sabia. 

Doch deren Darstellung, die wir hier wiedergeben werden, ist mit Vorsicht zu genießen.  

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